Ein weiterer Schritt in die Präsidialdiktatur

Werner Sarbok im Gespräch mit Sevim Dagdelen

UZ: Vor einem Monat hat Erdogan die Immunität des größten Teils der Abgeordneten der HDP – aber auch anderer Abgeordneten – im türkischen Parlament aufheben lassen. Beeinflusst das die Bedingungen für die Opposition in der Türkei?

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion „Die Linke“ und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion „Die Linke“ und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag

Sevim Dagdelen: Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamistische AKP-Regierung planen einen politischen Enthauptungsschlag gegen die Opposition in der Türkei. Mit der Unterzeichnung der Verfassungsänderung zur Aufhebung der Immunität von fast 140 Abgeordneten der Großen Nationalversammlung in Ankara ist die Jagdsaison auf die demokratische Opposition eröffnet worden. Der Coup richtet sich in allererster Linie gegen die Abgeordneten der linken prokurdischen Partei HDP. 50 von 59 ihrer Parlamentarier soll der Prozess wegen Terrorunterstützung gemacht werden – allen voran die Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sollen hinter Gitter. Der kurdischen Bevölkerung in der Türkei wird damit von höchsten staatlichen Stellen signalisiert: Ihr seid nicht erwünscht, euer Votum bei den Wahlen zählt uns nichts.

Und für Erdogan ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg in die Präsidialdiktatur. Verurteilte Abgeordnete verlieren ihr Mandat, ihre Sitze werden nicht neu besetzt. Bei demokratischen Wahlen hat Erdogan bisher die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine entsprechende Verfassungsänderung verfehlt. So könnte ihm das jetzt gelingen.

UZ: Wie ist aktuell die Situation in den kurdischen Teilen der Türkei?

Sevim Dagdelen: Erdogan führt Krieg gegen die Kurden im Südosten und er führt Krieg gegen die Demokratie im ganzen Land. Meinungs- und Pressefreiheit tritt er mit Füßen, wie die mehr als 2 000 Verfahren wegen „Beleidigung“ des Präsidenten zeigen. Mehr als 30 Journalisten sind inhaftiert. Die Presse in dem NATO-Mitgliedsland und EU-Beitrittskandidaten ist mittlerweile faktisch gleichgeschaltet. Die seit Wochen anhaltenden Angriffe auf kurdische Städte werden als „Antiterroroperationen“ dargestellt. Ganze Straßenzüge gleichen nach den Bombardements den Bildern, die wir von den Kriegszerstörungen in Syrien kennen. Wer Kritik an Erdogans Kriegskurs wagt, wird als PKK-Sympathisant denunziert und ist damit politisch praktisch vogelfrei.

Mit der Ausschaltung der HDP-Opposition wird den Kurden gleichzeitig jede Perspektive genommen, gesellschaftliche Veränderungen mit demokratischen Mitteln zu erreichen.

UZ: Die Reaktionen Erdogans auf die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages sind ja selbst im deutschen Regierungslager auf Kritik gestoßen. Wie bewertest du Erdogans Aussagen politisch? Und hältst du sie für eine Bedrohung auch für dich persönlich?

Sevim Dagdelen: Die Hetze Erdogans nach der Verurteilung der Vertreibung und Massaker an der armenischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich 1915/16 als Völkermord mit übergroßer Mehrheit des Bundestages ist ungeheuerlich und unerträglich. Es ist Nazisprech pur, wenn der türkische Präsident fordert, die „türkischstämmigen“ Abgeordneten sollten sich Bluttests unterziehen. Und es ist eine vollkommene Verharmlosung dieses faschistischen Gedankenguts, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel daraufhin lediglich bekundet, sie halte derlei Äußerungen für „nicht nachvollziehbar“. Einmal mehr wurde hier deutlich, wie sehr die Bundesregierung von dem Wohlwollen ihres Partners in Ankara abhängig ist. Der von Berlin ausgehandelte EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei hat Merkel erpressbar gemacht.

Im Zusammenhang mit der Armenien-Resolution gab es ein wahres propagandistisches Trommelfeuer, unterstützt von der türkischen Regierung oder von dieser mit gesteuert. Über Facebook und Twitter haben mich üble Beschimpfungen wie „armenische Hure“, „kurdische Terroristin“ und „Schlampe“ erreicht. Hinzu kommen direkte Bedrohungen wie „Wir kriegen dich“ und Hinweise über ein „Kopfgeld“, das auf mich ausgelobt worden sei. Mittlerweile macht ein „Steckbrief“ von mir und weiteren Kollegen im Netz und in den regierungstreuen Zeitungen die Runde – mit Hinweisen auf meine Kinder. Zudem wurde in der Türkei eine Klagewelle gegen uns Abgeordnete gestartet. Im Fall einer Verurteilung drohen uns bis zu drei Jahre Haft in der Türkei. Die Situation ist ohne Frage schwierig und ernst. Ich werde mich von den Drohungen Erdogans und seiner Helfershelfer in Deutschland aber in keinem Fall einschüchtern lassen.

UZ: Ditib wirft den „türkischstämmigen“ Bundestagsabgeordneten vor, dass sie gegen die Interessen ihrer Mitglieder und damit gegen die ihrer Wähler handelten. Wie gehst du mit dieser Anmaßung um?

Sevim Dagdelen: Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages und nicht der Großen Nationalversammlung. Das vergessen die Herren in Ankara und ihre Lautsprecher in Deutschland leider immer wieder. Ich habe die Interessen meiner Wählerinnen und Wähler in Deutschland zu vertreten und nicht die der AKP und ihrer Moscheevereine.

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"Ein weiterer Schritt in die Präsidialdiktatur", UZ vom 24. Juni 2016



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