Marcie Rendon erzählt vom Leben der Natives in den USA

Eine Indigene ermittelt

Cash träumt von blonden Teenagern, die um Hilfe rufen. Eigentlich heißt sie Renée Blackbear, ist eine neuzehnjährige Native American, kratzbürstig, sperrig und klug. Cash, weil sie immer Cash braucht. Seit sie elf ist, fährt sie während der Erntezeit Rübenlaster, zwischendurch liest sie Shakespeare und andere Klassiker der Weltliteratur. Poolbillard ist ihre Leidenschaft, literweise Bier und Zigaretten gehören dazu. „Ihre engsten Freunde waren ihr Queue und ihr Wagen, ein ‚Ranchero‘. Und der Fluss, der nach Norden floss. Und das Land, das Leben gab, dem Weizen, dem Mais und den Zuckerrüben. Die flachen Ebenen, die ihr Raum zum Atmen gaben.“ Kurz: sie ist ebenso empfindsam wie hartgesotten.

Sheriff Wheaton, auch ein Native, beschützt und fördert sie. Er ist der einzige Mensch, dem sie vertraut. Als er Cash aufgabelte, hatte sie gerade ihre Familie verloren. Danach erlebte sie in diversen Pflegefamilien eine Hölle auf Erden. Bis Wheaton ihr ein Dach über dem Kopf besorgt, ein Stipendium für Natives organisiert und sie aufs College nach Fargo schickt, damit sie es zu etwas Besserem bringen kann, als ihr in die Wiege gelegt wurde. Cash fühlt sich dort denkbar unwohl: „Gepöbel, Schimpfnamen, eklige Anmache, an so was bin ich gewöhnt, aber mich für blöd zu halten, weil ich Indianerin bin?“

Es sind die siebziger Jahre. Selbst in den entlegensten Gebieten der USA ist die Aufbruchstimmung angekommen. Die weißen Studentinnen tragen Hippie-Look, rauchen lieber Gras als Zigaretten, reden von Love and Peace, diskutieren über den Vietnamkrieg. Und machen sich für bessere Noten an die angehimmelten Dozenten ran. Die Jungs sind nicht besser. Im Seminarraum eine Woge von Blond, das skandinavische Erbe dominiert das Bildungswesen. Indianische Studenten werden für dumm gehalten. Aber es gibt auch Widerstand. Indigene Studierende, die sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden, Vorträge in Studentenzusammenschlüssen halten und sich zunehmend radikalisieren. Cashs große Liebe ist einer ihrer Anführer. Dann verschwindet eine weiße Mitstudentin, ein braves Mädchen.

Marcie Rendons Protagonistin ist das Opfer eines unmenschlichen Systems, aber sie ist nicht bereit, ein Opfer zu sein. Sie geht unbestechlich und unbeirrbar ihren eigenen Weg. Mutig nutzt sie die Chancen, die sich ihr bieten. Eine junge Frau aus Moorhead, Minnesota, am Ende der Welt hinter Fargo in So­uth Dakota, die nach den Jahren voller Erniedrigung und Einsamkeit in den Pflegefamilien den ruhigen Rhythmus des Valley braucht. Und ab und an Jim fürs Bett.

Doch dann steht Geronimo, genannt Mo, ihr totgeglaubter Bruder, vor ihrer Tür und nistet sich bei ihr ein. Er ist in einer anderen Familie aufgewachsen, ackerte auf dem Hof, der ihm auch als Erbe versprochen wurde. Aber es kommt die Army und Vietnam, wieder zurück und kein Erbe. Natives sind gut genug zum Sterben auf den Schlachtfeldern des Imperialismus. Im eigenen Land sind sie rechtlos, ausgesondert. Mo ist traumatisiert, leidet unter Flashbacks, braucht ’ne Menge Gras. Er füllt Kühlschrank und Vorratskammer, brät Eier mit Speck, umsorgt und beschützt Cash. Als er von dem verschwundenen weißen Mädchen erfährt, spricht er von „weißer Sklaverei“. Jetzt weiß sie, dass es ernst ist. Ihre Träume werden wahr. Sie muss zum ersten Mal in ihrem Leben das Red River Valley verlassen und in die Großstadt fahren.

Marcie Rendon weiß, wovon sie spricht. Sie gehört der Anishinabe White Earth Nation an, ist Aktivistin für die Rechte der NativeAmericans. Bevor sie zur Literatur kam, machte sie ihre Bachelors in Strafjustiz und Indianistik an der Moorhead State University. Wie in ihrem ersten Roman „Am roten Fluss“, erzählt sie auch in „Stadt, Land, Raub“ von der Lage der Native Americans in den 1970ern. Auch heute noch werden in den USA jährlich rund 3.000 indigene Frauen entführt oder ermordet. Jahrzehntelang wurden Indigenen in den USA systematisch ihre Kinder weggenommen (landesweit 25 bis 30 Prozent, in einzelnen Bundesstaaten wie Minnesota sogar unvorstellbare 60 Prozent). Als Pflegekinder mussten sie in weißen Familien schuften, wurden gedemütigt und misshandelt. Cash gehört dazu.

Cash ermittelt nicht, sie redet mit den Farmern, den Eltern, den Freundinnen, macht sich ein Bild von dem verschwundenen Mädchen. Und sie entdeckt schnell, dass sie nicht die Einzige ist. Bald wird die „weiße Sklaverei“ auch für sie, die Nicht-Weiße, brandgefährlich.

Mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn kämpft Cash gegen Diskriminierung, Willkür und Gewalt an. Die Autorin lenkt unseren Blick nachdrücklich, aber auch spannend und bewegend auf die Verbrechen an den amerikanischen Indigenen hin. Sie lässt ihre Antiheldin ein Leben kämpfen, das sie nicht selbst gewählt hat, sondern in das sie aus Angst und Hilflosigkeit geflüchtet ist. Und die menschenscheue Cash reift zu einer der eigenwilligsten Ermittlerfiguren des Genres. Eine veritable Kollegin von Sam Spade und Philip Marlowe.

Marcie Rendon,
Stadt Land Raub
Ariadne Verlag Hamburg 2020, 
236 Seiten, 13 Euro

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"Eine Indigene ermittelt", UZ vom 5. Februar 2021



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