Ödön von Horváth, hellsichtig zweifelnd

Fremd in der Heimat

Von Herbert Becker

Vor 80 Jahren, genauer: am 1. Juni 1938, wird Ödön von Horváth, ungarischer Schriftsteller und Dramatiker deutscher Sprache, in Paris im Exil lebend, während eines Unwetters durch einen herabstürzenden Ast auf den Champs-Elysées getötet. Er wurde gerade mal 37 Jahre alt, und sagte über sich selbst: „Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume (besser bekannt als Rijeka, HB) geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Pass – aber: Heimat? Kenn ich nicht. […] Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur Deutsch, gehöre also dem deutschen Kulturkreis an, dem deutschen Volke. Allerdings der Begriff ‚Vaterland‘, nationalistisch gefärbt, ist mir fremd. Mein Vaterland ist das Volk. Also, wie gesagt: Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität.“

Bekannt wird er Ende der 20er Jahre durch seinen Roman „Der ewige Spießer“ und sein erstes Theaterstück „Italienische Nacht“, beides kommt in Berlin heraus. Es folgen die „Geschichten aus dem Wienerwald“ und „Kasimir und Karoline“. Horváth erhält den damals sehr angesehenen „Kleist-Preis“ und ist damit in Gesellschaft von Bertolt Brecht, Robert Musil und Anna Seghers. Er kommentiert die Preisverleihung so: „Dass ich den Kleistpreis bekommen habe, habe ich aus der Zeitung erfahren. […] Ein Teil der Presse begrüßte diese Preisverteilung lebhaft, ein anderer Teil wieder zersprang schier vor Wut und Hass. Das sind natürlich Selbstverständlichkeiten. Nur möchte ich auch hier betonen, dass auch im literarischen Kampfe, bei literarischen Auseinandersetzungen von einer gewissen Presse in einem Tone dahergeschrieben wird, den man nicht anders als Sauherdenton bezeichnen kann.“ Horváth verlässt 1933 Berlin und siedelt nach Wien um, er schreibt den Roman „Jugend ohne Gott“, der in Amsterdam 1937 verlegt werden kann. In Wien kann er sich noch bis zum Einmarsch der deutschen Faschisten im März 1938 halten, flieht durch halb Europa und landet in Paris. Wenn es nicht bitter wäre, dann zumindest ironisch: Horváth war ein wenig abergläubisch, für den 1. Juni war ihm ein schlechter Tag geweissagt worden, deshalb wollte er in kein Auto steigen, sondern lieber zu Fuß zu seiner Unterkunft gehen.

Und die Leute werden sagen

In fernen blauen Tagen

Wird es einmal recht

Was falsch ist und was echt

Was falsch ist, wird verkommen

Obwohl es heut regiert.

Was echt ist, das soll kommen –

Obwohl es heut krepiert.

Angefeindet in den 30er Jahren, vergessen nach dem Zweiten Weltkrieg und wiederentdeckt als politischer Autor in den frühen 70er Jahren: Ödön von Horváths Volksstücke aus dem Milieu kleinbürgerlicher Bereitschaft, sich faschistische Ideologie und Politik anzueignen, sind zu Klassikern des kritischen Theaters geworden. Murnau am oberbayerischen Staffelsee, dort lebte Horváth bei seinen Eltern immer wieder für einige Zeit, ist für ihn das Destillat aus selbstgerechter Provinzialität, aufstrebender Bürgerlichkeit und ländlichem Abstieg – eine Mischung, die in konzen­trierter Form noch einmal all das enthält, was Ödön von Horváth schon in den bisherigen Stationen seines Lebens, in Budapest, Wien oder München, kennenlernen konnte. Die 20er Jahre mit ihrer Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, den demokratiefeindlichen Tendenzen und einem verfestigt autoritär-faschistischen Weltbild wehen durch Murnau wie durch ein prototypisches Wirtshaus. In Murnau finden Horváths Abneigungen genügend Bilder zur ideologischen Aufrüstung; der kleine Ort taucht als stilisierter Schauplatz immer wieder in den Stücken auf. Im Ort verdächtigt, ein Kommunist zu sein, erlebt Horváth hier im Bierdunst der heraufdämmernden Zeit hautnahe Anfeindungen, die sich auf dem Papier der Feuilletons später fortsetzen. Als „Mischling altösterreichischer Rassen“ wird Horváth beschimpft und vom „Völkischen Beobachter“ 1931 als ungarischer „Salonkulturbolschewist“ bezeichnet, „der deutschen Menschen nichts, aber auch gar nichts zu sagen hat“.

Erinnert werden muss an die Situation deutschsprachiger Autoren ab 1933, die keine „Reichsdeutschen“ waren. Sie wurden, da im Ausland lebend, noch nicht verfolgt, aber in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Sie schrieben in deutscher Sprache, der große Teil ihres Publikums, der Verlage und Zeitungen waren nunmehr verboten, ihre Bücher landeten genauso wie viele andere auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen. In Österreich selbst wollte der austrofaschistische Ständestaat durch die Beherrschung des öffentlichen Kommunikationssystems die oppositionelle Berichterstattung ausschalten. Insgesamt wurden 325 Bücher verboten. Viele andersdenkende oder jüdische Dichter wurden zum Verlassen des Landes gezwungen: Theodor Kramer, Veza und Elias Canetti flüchteten nach England, Joseph Roth, Robert Musil, Stefan Zweig, Maria Lazar und Marta Karlweis mussten ebenfalls fliehen, andere, wie Else Feldmann, Jura Soyfer, Adolf Unger, wurden später in KZs ermordet.

Die Theaterstücke Ödön von Horváths werden als „Volksstücke“ in die Schubladen der Germanisten, Philologen und Studienräte gesteckt. Horváth selbst gab an: „Es hat sich nun durch das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet, nämlich durch den Bildungsjargon. Um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu können, muss ich also den Bildungsjargon sprechen lassen. Der Bildungsjargon (und seine Ursachen) fordert aber natürlich zur Kritik heraus – und so entsteht der Dialog des neuen Volksstücks, und damit der Mensch und damit erst die dramatische Handlung – eine Synthese aus Ernst und Ironie. Mit vollem Bewusstsein zerstöre ich nun das alte Volksstück, formal und ethisch – und versuche die neue Form des Volksstücks zu finden. Dabei lehne ich mich mehr an die Tradition der Volkssänger und Volkskomiker an, denn an die Autoren der klassischen Volksstücke. Es darf kein Wort Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muss hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden (…) Bitte achten Sie genau auf die Pausen im Dialog, die ich mit ‚Stille‘ bezeichne – hier kämpft das Bewusstsein oder Unterbewusstsein miteinander, und das muss sichtbar werden. (…) Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind. Das Unheimliche muss da sein.“

Die „natürlich“ und authentisch klingende Alltagssprache erweist sich als Kommunikationsfalle, die wiederum die Unfähigkeit der Figuren demonstriert, über sich und die Gesellschaft zu reflektieren. Horváths Kritik am alten Volksstück bezieht sich darauf, dass es die Veränderungen seiner sozialen Träger nicht wahrnimmt. Besonders anschaulich und zugleich sprachlich distanziert werden in „Kasimir und Karoline“ Privates und Gesellschaftliches, Kritisches und Metaphysisches, Schicksal und menschliches Handeln in einer stets greifbaren Realität miteinander verknüpft. Im Text heißt es: „Die Menschen wären doch gar nicht so schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät.“ Der Text setzt nicht analysierend in Szene, sondern enthüllt das Unbewältigte eines Strebens, das auf Vorteil, Gewinn und Besitz – auch der Liebe – aus ist und das auf der politischen Ebene dem unverhohlenen Machtanspruch korrespondiert. Der Roman „Jugend ohne Gott“ behandelt am Beispiel eines Lehrers, der ausspricht, was zu sagen nötig ist, den Wechsel vom „Leben in der Lüge“ zum „Leben in der Wahrheit“ unter den Bedingungen eines totalitären, ja faschistischen Systems. Der Lehrer will von „Gott“ reden, seine Schüler wollen von der „Wirklichkeit“ reden, er kann nicht mehr zu ihnen durchdringen. Er geht auch sprachlich in die Emigration, indem er abwandert in den Bereich der religiösen Bildsprache, die von der politischen Sprache weit entfernt durch das „christlich-abendländische“ Bezugssystem und allgemein vertraut ist. Der Roman ist ambivalent, er verfährt satirisch im Blick auf das „Leben in der Lüge“, im Übergang zu einem „Leben in der Wahrheit“ soll die Erfahrung einer „anderen“ Bedeutung des Wortes Gottes hervorkommen. Dies kann nicht gelingen, denn die andere Sprache, die notwendig ist, um systematisch Kritik und aktiven Widerstand zu ermöglichen, ist nicht im Rückzug auf eine „innere Emigration“ herstellbar. Der Roman, in den Jahren 1935–1937 geschrieben, ist eine hellsichtige Analyse, vergleichbar vielleicht mit Victor Klemperers Text über die Sprache des Dritten Reichs LTI (Lingua Tertii Imperii), obwohl andere literarische Mittel genutzt wurden.

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Fremd in der Heimat", UZ vom 8. Juni 2018



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