Zu Bernd Schirmers Roman „Silberblick“

Ganz normale Leben in der DDR

Von Rüdiger Bernhardt

Bernd Schirmer: Silberblick. Roman. Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke 2017, 456 S., 24,- Euro

Bernd Schirmer: Silberblick. Roman. Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke 2017, 456 S., 24,- Euro

Anna ist die wichtigste Gestalt des Romans, Anna Dubourdieu, vielleicht heißt sie aber auch Anna Laforet – das „Reh mit dem Silberblick“, le chevreuil, la biche, das „Rätsel“ – ist zu Beginn des Romans tot. Die Unschärfe, die um diese Gestalt vom Erzähler Josef Birnbaum geschaffen wird, der in Schuhkartons und Zigarrenkisten die Erinnerungen gesammelt hat, lässt sie wie ein Phantom erscheinen: Sehnsuchtsideal; Halbfranzösin, mythisch anmutende Schönheit. Sie und Frankreich waren Josefs Ideal, der Gegenentwurf zum „Verordneten“ in seiner Wirklichkeit. Ist es ein Wunder, dass die tote Anna für den Erzähler zu leben scheint? Oder sind es die Folgen seines Alkoholmissbrauchs?

Annas scheinbare Wiederkehr zu Beginn wird als Irrtum erkannt und löst die Erinnerungen aus, die drei Freunde einbezieht und die Geschichte eines Landes bietet, der DDR bis zu ihrem Ende. Dabei sind die drei jungen Männer und Anna im Grunde unpolitische Menschen, die im Alltag das Märchen, im Leben die Schönheit und in der Liebe Erfüllung suchen. Ihr Widerpart wird dabei der Große Klawitter, ein Mitstudent und sich politisch verantwortlich fühlender Genosse. Das führt sie in widerspruchsvolle Situationen.

Der 1. Teil beginnt Anfang der sechziger Jahre, als der Erzähler, wie sein Freund Schlotheim, Germanistik bei „einem berühmten Professor …, einem gewissen Hans Mayer“, ein anderer Freund Jura in Leipzig studieren und bei der Halbfranzösin und Romanistikstudentin Anna, die Lehrerin werden will, Französischstunden nehmen. Es geht über die Landlehrertätigkeit des Erzählers im Oderbruch zu seiner Tätigkeit beim Rundfunk, bei dem schließlich auch Schlotheim als Ressortleiter für Märchen zu arbeiten beginnt – Klawitter wird beider Gönner – und führt im 4. Teil (1977–1989) zum Leben der vierköpfigen Familie Annas und des Erzählers in Berlin, wo sich ihr Traum zu erfüllen scheint: Sie lebten wie „die Götter in Frankreich“; Anna unterrichtet Französisch an der Volkshochschule. Parallel dazu wurden das Leben in der DDR und die alltäglichen Widersprüche komplizierter. Der Roman endet mit dem 5. Teil in der Nachwendezeit. Anna stirbt Anfang November 1989. Erwartungen des Erzählers, die sich aus der Demonstration vom 4. November auf dem Alexanderplatz ergeben, erfüllen sich nicht. Der Tod Annas und die Enttäuschungen fallen zusammen. Trotzdem: Das Leben geht weiter, auch mit einem neuen Menschen; der Erzähler wird zum Samenspender für Annas Freundin, die Frau Klawitters, der keine Kinder zeugen kann.

Die Protagonisten haben ein trotz aller Widersprüche erfülltes Dasein, frei von politischen Anfechtungen, sie haben sich für das Land entschieden, in dem sie leben und arbeiten konnten. Es ist ein verhaltenes, aber beeindruckendes Bekenntnis zu ihrem Leben. Annas Tod erscheint so wie ein Symbol für das Ende ihres Staates.

Bernd Schirmer konnte aus dem Vollen schöpfen. Er stammt aus der kleinen erzgebirgischen Bergstadt Scheibenberg, das Hinterlückenstein des Romans. Er hat nach 1960 in Leipzig studiert, bei Hans Mayer. Vieles von dem, was er berichtet, existierte, wie das legendäre Café Corso gegenüber der alten Universität, wo ein Teil aller Studien im privaten Gespräch absolviert wurde. Es ist Zeit, dass diesem legendären Ort, den Schirmer als „konspirativen Treff“ stilisiert, ein Denkmal gesetzt worden ist. Bernd Schirmer arbeitete beim Rundfunk und bis 1991 beim Fernsehfunk; seine Französisch­kenntnisse konnte er von 1969 bis 1972 als Dozent an der Universität Algier anwenden und vervollständigen. Bekannt wurde er zudem durch seine mehr als 70 Folgen in der Serie „Der Landarzt“ (1993–2003), deren Drehbücher er schrieb.

Das Leben in der DDR wird umfänglich beschrieben und benannt, spannungsreich und voller Widersprüche, aber für die Betroffenen nicht existentiell gefährdend. Diejenigen, die Widersprüchen aus dem Weg gehen wollen, weil sie ihnen zu anstrengend sind, weichen durch Flucht aus, ein Gedanke, der auch die Freunde befällt, einer verwirklicht ihn, die anderen sind entschieden dagegen, denn von den Gründen war einer „kindischer als der andere“. Das meint auch Anna: Dem Erzähler erklärt sie schlicht: „… weg von hier will ich auch nicht.“ So entsteht ein Leben mit seinen Sehnsüchten und Gefährdungen, auch mit seiner Monotonie, aber auch mit dem Leben in diesem Staat (21), das sich manchmal der Vernunft entzog, wie bei der „negativen Auslese“ (329) oder absurden Auflagen, wenn man sich von einer unbekannten Westverwandtschaft distanzieren sollte. Es ist ein Buch über die DDR als einem Land, in dem es Wünsche gab, die schwer erfüllt werden konnten, Ideale, denen man nachstrebte, und in dem auch unterschiedliche Lebensanschauungen nebeneinander bestanden, manchmal im Widerstreit, manchmal in Übereinstimmung, bestens vorgeführt in des Erzählers Mutter, einer gläubigen Kirchenchorsängerin, und dem Vater des Freundes, einem Genossen, der aus der Geschichte Lehren gezogen hat. Beide mögen sich außerdem, wohnen aber an entgegengesetzten Enden des Dorfes und kommen – wie bei den Königskindern – nicht zueinander. Es ist auch ein staatliches System, das im Bemühen, Gutes für seine Nutzer zu wollen, in Formalien und Angstphobien gefangen ist und mit einem vielfältigen Beziehungssystem seine Probleme löst. Im Roman stehen die grünen Ledermäntel dafür. Bei der Beschreibung von Schwierigkeiten und Konflikten findet der Erzähler einen wesentlichen Grund dafür darin, dass die Menschen jede Schwierigkeit, auch die kleinste, „wenn’s keine Baumwollschlüpfer zu kaufen gab“, auf die Partei schoben, nie aber sich selbst befragten. Dort, wo sie selbstständig zu handeln begannen, lösten sich auch Probleme, doch es waren zu wenige, die sich engagierten. Zu sehr wurden die Menschen verwöhnt. Der Erzähler sieht es selbstkritisch: „Wir mogelten uns durch, wir trudelten in der Mitte.“

Es ist ein Roman, in dem deutsche Traditionen ausgelebt und kritisch reflektiert werden. Schön einerseits die von jeder Trivialität freien Beschreibungen des Weihnachtsfests im Erzgebirge mit der sachkundigen Erläuterung des Neunerlei, „nach altem Brauch“, aber auch andererseits das Weihnachtsfest als Ort der familiären Zerrüttung, wie es sich häufig in der Literatur findet.

Bernd Schirmer gibt der schönen, aber auch erschütternden Geschichte durch zahlreiche Signalwörter eine tiefe historische Bedeutung: Wenn er Hans Mayer erwähnt, dann erinnern sich viele an den bedeutenden Intellektuellen, der als Marxist 1948 in den Osten kam, sich für Repräsentanten der sozialistischen Literatur wie Brecht und die Seghers einsetzte, aber bei dem auch über Kafka promoviert wurde und der aus seiner Neigung zu Frankreich, Rousseau, dem französischen Exil Heines, aber auch aus seinem Wissen um Proust kein Geheimnis machte, und der 1963 den Osten wieder verließ, nachdem er auf unsägliche Weise von engstirnigen Parteifunktionären wie dem Leipziger Bezirkssekretär Paul Fröhlich kritisiert worden war; im Westen war er danach vielen Varianten von Ablehnung von Reich-Ranicki bis Henryk M. Broder ausgesetzt. Wenn Schirmer die grünen Ledermäntel erwähnt, sind sie ein Zeichen des Staatssicherheitsdienstes, obwohl die Mitarbeiter keineswegs alle solche Mäntel trugen. Wenn er von der französischen Geschichte spricht, die den jungen Studenten „mit ihren Revolutionen“ besser gefallen habe als die deutsche „mit ihren Kriegen“, ist das historisch zwar verkürzt, konzentriert aber unterschiedliche Geschichtsverläufe auf eine rationale Vergleichsmöglichkeit. Ein Ziel der Sehnsucht nach Paris war ein Besuch am Grab von Heinrich Heine, „um eine rote Rose auf die Grabplatte zu legen“. Eine Dichtungstradition wird angesprochen, die sowohl Hans Mayer als auch dem Erzähler wichtig war, die die Lehrpläne der DDR bestimmte, aber auch Anlass zu kritischer Betrachtung des Umgangs mit deutschen Dichtern war und ist: Des Erzählers Freund Schlotheim, der Anna am Ende des 1. Teils heiratet, schreibt seine Jahresarbeit über Heines „Buch Le Grand“. Die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen: die unsinnige Sprengung der Universitätskirche, die das gleiche Schicksal erlebte wie das Café Corso u. a. Jedes dieser Signalwörter öffnet Räume, in denen sich der Leser bewegen kann. Über allem aber steht: Wenn der Erzähler von Anna berichtet, meint er metaphorisch auch Annas Land.

Die eindrucksvolle Bildhaftigkeit der Erinnerungen bewegt sich zwischen Realität und Phantasie. Manches Gesicherte wie Abstammung und Namen verschwimmt im Ungefähren. Aber auch anderes überschreitet die Grenze zum Märchenhaften wie die „wundersame Fähigkeit“ des Erzählers, die auch nach der Wende erhalten bleibt und sogar in Frankreich funktioniert, gewaltlos Münzfernsprecher zu knacken oder das Treffen zwischen dem Erzähler und Klawitter an stürmischer See und die Rettung Klawitters durch den Erzähler aus Todesnot oder Edeltraut Splettstößers „unbefleckte“ Empfängnis, die Josef Birnbaum zugeschrieben wird, oder das „eigentliche, tatsächliche Märchen“ von dem Künstler Rastelbauer und dem Karneval usw.

Schließlich ist das Märchen ein zentrales Thema im Rundfunk, unter dem neuen Ressortleiter Burkhard Schlot­heim. Die Zeit für Märchen und Träume sei abgelaufen, wird den beiden von den neuen Machthabern nach 1989 erklärt, jetzt sei Authentisches gefragt, die Hilfskonstruktion für Bedeutungsloses. Für die Freunde aber waren die Jahre ihrer Träume und Märchen eine „glückliche Zeit“, die sie nicht vergessen möchten. Es ging ihnen gegen den Strich, dass ihnen eingeredet wurde, „dass wir nicht richtig gelebt hätten“.

Im „Nachtrag“ reisen die Freunde doch nach Frankreich und sie treffen dort wieder auf ihre Märchen: als ihnen ihr früherer Freund begegnet, der die DDR verlassen hatte, als die Telefonzellen auch in Frankreich ihr Geld ohne Probleme ausschütten, als auf der Rückfahrt in Rothenburg ob der Tauber selbst Anna – „der leichte Silberblick“ – wiedererscheint und schließlich Anna auch wieder in Hinterlückenstein auftritt.

Ein schön aufgemachtes Buch, dem Verbreitung zu wünschen ist und seinem Autor ein Publikum, das sich über die DDR, ihre Leistungen und ihre Fehler informieren möchte.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Ganz normale Leben in der DDR", UZ vom 23. Februar 2018



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