UZ-Interview mit Erik Neutsch

„Ich verachte die Stagnation…“

Erik Neutsch, am 21. Juni 1931 geboren, gehörte zu den sozialistischen DDR-Schriftstellern der jüngeren Generation, die ihr Schaffen unmittelbar den Arbeitern in der Produktion widmeten. So entstand sein vieldiskutierter Erzählungsband „Bitterfelder Geschichten“ und sein erster Roman „Spur der Steine“.

Vor 50 Jahren erschien der Roman „Auf der Suche nach Gatt“. Die UZ führte damals ein Interview mit dem bekannten DDR-Schriftsteller Erik Neutsch:

UZ: Zur Leipziger Buchmesse 1973 erscheint Ihr neuer Roman „Auf der Suche nach Gatt“. Was können Sie unseren Lesern über Thematik und Schauplatz dieses Buches sagen?

Erik Neutsch: Dieser „Gatt“, Name der Hauptfigur meines letzten Buches, hat mich wahrlich lange genug beschäftigt. Aus vielerlei Gründen, auf die alle hier einzugehen, in die Ferne schweifen hieße. Ich möchte nur so viel verraten, dass der Text (mehr wohl noch die Handlung) mehrere grundsätzlich unterschiedliche Fassungen durchmachte. Danach lag dann das Manuskript seit etwa vier Jahren. Was heute zu seinem Abschluss führte, war eine nochmalige Korrektur von meiner heutigen Sicht aus.

Darin wird die Geschichte eines Mannes erzählt, eines Bergarbeiters von Beruf, der, nachdem er achtzehnjährig aus dem Kriege heimgekehrt, schon recht frühzeitig in die Lage kommt, Machtpositionen in der neu entstehenden Gesellschaft auf dem Boden der späteren DDR zu besetzen. Die historische Notwendigkeit zwingt ihn ganz einfach dazu. Der alte imperialistische Staatsapparat ist gestürzt, die neue Klasse muss selber eine volksdemokratische Ordnung errichten. Gatt tut das mit aller Vehemenz, mit aller Leidenschaft, aber auch noch mit reichlich Unwissen. An seiner Rigorosität, mit der er den Herrschaftsanspruch der Arbeiterklasse vertritt (und hätte er sie nicht, wäre er nicht mein Held), zerbricht seine Ehe, scheint er später selber zu zerbrechen. Seine Irrtümer häufen sich. Klügere kommen und üben die Macht klüger aus als er. Doch sind sie in jedem Falle auch „menschlicher“ als Gatt, der einer der ersten, wenngleich auch nicht immer einer der besten war?

Solchen und ähnlichen Fragen wird nachgespürt, anhand des Lebensweges von Gatt bis in die Gegenwart hinein. Sie werden überprüft am Verhältnis anderer Personen zu Gatt, seines Freundes Weißbecher, Chefredakteur einer Zeitung, seiner Frau Ruth, einer Ärztin. Die Freundschaft wird abgeklopft und auch, bilde ich mir ein, die Liebe, und zwar beide unter den Bedingungen neuer gesellschaftlicher Verhältnisse.

Strukturell lebt der Roman von mehreren Erzählebenen. Es gibt einen Erzähler, der die Geschichte Gatts erfuhr, von ihr beunruhigt wird und ihr nun nachgeht. Daraus ergibt sich der Titel „Auf der Suche nach Gatt“. In der UZ übrigens geschah bei der Ankündigung dieses Titels ein lustiger Druckfehler. Dort hieß es: „Auf der Suche nach Gott“. Nein, Gott wird in meinem Roman nicht gesucht. Gesucht wird der Mensch, der Sozialist im Sozialismus.

UZ: Sie arbeiten in verschiedenen Genres: Ein Kinderbuch wird demnächst erscheinen; Der Komponist Wenzel arbeitet an einer Vertonung eines Lied-Zyklus von Ihnen; schließlich beginnen Sie einen auf sechs Bände geplanten Roman-Zyklus. Warum bedienen Sie sich als erfolgreicher Romancier jetzt mehrerer künstlerischer Formen?

Erik Neutsch: Ihre Frage beruht auf einer nicht ganz genauen Beobachtung. Ich versuche mich nicht erst jetzt in mehreren künstlerischen Formen. Die Lieder, die Wenzel vertont, sind über mindestens zehn Jahre gesammelt. Er fand Gefallen daran. Ich selber bin mir bis heute unsicher, ob meine Lyrik etwas taugt. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich auch Erzählungen schrieb. 1971 war, wenn Sie so wollen, mein dramatisches Jahr. Im Landestheater Halle wurde unter der Regie von Ulrich Thein mein Schauspiel „Haut oder Hemd“ uraufgeführt. Es erscheint übrigens dieser Tage im Druck. Die Staatsoper Berlin brachte im selben Jahr Günter Kochans Oper „Karin Lenz“ heraus. Das Libretto dazu stammt von mir. Und dann arbeite ich noch an einem dreiteiligen Fernsehfilm.

Warum tue ich das? Aus Spaß an der Sache. neue Formen schaffen immer auch wieder neue Möglichkeiten für andere Formen. Zweitens liegt das wohl an meinem Temperament. Ich habe Literatur stets als Entdeckung von neuer Wirklichkeit aufgefasst. Und so wie ich das auch persönlich versuche, mich immer wieder dem fortschreitenden Leben neu zu stellen, so auch in meiner künstlerischen Arbeit. In Bewegung bleiben. Ich verachte nichts mehr als Stagnation. Gesellschaftlich, persönlich, aber auch künstlerisch. Ich denke, ich befinde mich damit in schöner Übereinstimmung mit den Charakterzügen der Klasse, der ich entstamme, die sich hierzulande sozial und politisch befreit hat und die täglich neu immer auch wieder neue Schöpfkraft freisetzt.

UZ: Wie sind Ihre nächsten Pläne?

Erik Neutsch: Da wäre als erstes, wie Sie bereits erwähnten, der Roman-Zyklus, der mit sechs Büchern geplant ist. Sein Titel: „Der Friede im Osten“. Die Handlung beginnt am letzten Tag des Krieges und führt bis in die unmittelbare Gegenwart. Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Ich bin froh, jetzt erst einmal beim Schreiben bis zur Hälfte des ersten Buches gekommen zu sein, dessen Manuskript, denke ich, Mitte dieses Jahres vielleicht vorliegen könnte. Zweitens habe ich den ersten Teil des Szenariums für den erwähnten Fernsehfilm hinter mich gebracht.

Was den Roman betrifft, so ist er ästhetisch, wie bei seiner Anlage leicht zu merken, gegen alles Geschwätz gerichtet, dass der Roman tot sei, nicht mehr lebensfähig und dergleichen. Ich glaube, solcherlei kann nur behaupten, wer nichts zu sagen, nichts zu entdecken hat. Solange die Leser noch immer nach einem wirklich nicht dünnen Buch wie „Spur der Steine“ greifen, dessen Auflage inzwischen die 300.000 überschritten hat (und mit mindestens zehn anderen Büchern von DDR-Autoren wäre ähnliches zu belegen), kann doch wohl vom „Tod des Romans“ nur derjenige reden, der seine ästhetische Rechnung ohne den Wirt macht, seine ästhetische Konzeption ohne das Volk.

Es erübrigt sich doch wohl zu betonen, dass angesichts eines solchen Vorhabens ebenfalls zu meinen nächsten Plänen gehört, immer auch wieder gesellschaftlich tätig zu sein, am Leben der Menschen hierzulande teilzuhaben, der weltgeschichtlichen Entwicklung auf der Spur zu bleiben, um ihr literarisch vielleicht vorauseilen zu können. Ganz konkret heißt das für mich zum Beispiel, Intensivstudien auf dem Gebiete der Molekularbiologie, besonders der Gentechnik mit all ihren ethischen, sozialen und politischen Problemen zu betreiben.

UZ: Die Künstler der DDR stehen in einem vielseitigen Gesprächsaustausch mit ihren Kollegen in den sozialistischen Ländern. Welche Autoren welcher Länder haben Sie am meisten beeinflusst, angeregt, Ihnen neue Erkenntnisse erschlossen?

Erik Neutsch: Wir stehen nach meiner Meinung erst am Anfang eines solchen vielseitigen Gesprächsaustausches. Die sozialistische Integration, scheint mir, hat da auf diesem Gebiete, im Gegensatz zu anderen, noch reichlich nachzuholen.
Meine eigene literarische, aber auch politische Entwicklung wäre undenkbar ohne das Kennenlernen der realistischen Literatur der Sowjetunion. In jüngerer Zeit gesellten sich Romane von Simonow und Granin hinzu.

Ich sehe allerdings, dass allein eine solche Namensliste das Problem einengen würde. Nicht weniger beeindruckten mich, aus unterschiedlichen Gründen, solche Autoren der Gegenwart wieder Holländer Theun de Vries, der Franzose Louis Aragon und der Amerikaner John Steinbeck, er zumindest in seiner realistischen Zeit.

Bücher von Erik Neutsch sind im UZ-Antiquariat erhältlich.

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