Kalkül mit Zukunft

Kolumne von Georg Fülberth

Georg Fülberth

Georg Fülberth

Die Art und Weise, wie die Kanzlerin in den vergangenen Wochen innerhalb der eigenen Partei und der CSU demontiert wurde, erinnert an die Schwächeperiode Kohls 1988/1989: Das Kapital war unzufrieden mit ihm, weil er das Lambsdorff-Papier von 1982 immer noch nicht umgesetzt hatte. Geißler plante seinen Sturz, Lothar Späth stand als Nachfolger bereit, aber Kohl wurde schließlich durch die Öffnung der ungarischen Grenze für Wirtschaftsflüchtlinge aus der DDR gerettet.

Merkel dagegen hat sich den Unwillen des Kapitals bisher zumindest nicht in gefährlicher Weise zugezogen. Sie hielt sich an die Agenda 2010 von Schröder und fuhr gut damit. Ihre Bereitschaft, Flüchtlinge in Deutschland großzügiger als bisher aufzunehmen, findet die ausdrückliche Billigung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Er begrüßt die Zufuhr von Fachkräften, aber auch von Billigarbeit sowie eine Korrektur des gegenwärtigen demografischen Trends. Dass dennoch Seehofer und Teile der CDU dagegen aufbegehren, hat zwei Gründe:

Erstens: Durch die AfD drohen Stimmenverluste.

Zweitens: Die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge wird erhebliche Mittel kosten. Soll Schäubles schwarze Null gehalten werden, sind entweder Einsparungen an anderer Stelle vonnöten – etwa in den Sozialhaushalten, und das lenkt Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten –, oder die Steuern müssen erhöht werden. Welche? Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet den Massenkonsum – schlecht für die Binnennachfrage, gut für die AfD. Oder es käme doch endlich zum Umfairteilen durch Wiedereinführung der Vermögens-, eine steile Progression der Einkommens- und eine wirksame Erbschaftssteuer. Das aber würde dem Kapital dann doch nicht behagen. So kommt die Kanzlerin in Bedrängnis.

Doch die Rettung ist nah: durch Komplizenschaft mit autoritären Regimes. Erdogan soll möglichst viele Flüchtlinge abfangen. Orbán hat schon die ungarische Grenze dicht gemacht. Wenn die Dreckarbeit gemacht ist, fällt die Feinjustierung leichter: Vielleicht kommt es doch noch zu einer Einigung mit den anderen EU-Staaten für eine Verteilung der Flüchtlinge. So würde folgender Zweck erreicht: Deutschland bekommt den Zuwachs, den es braucht, und die längst fällige Umverteilung von oben nach unten wird dennoch vermieden. Merkels gegenwärtige Schwächeperiode wäre überwunden und der Fortsetzung ihrer Kanzlerinschaft über 2017 hinaus stünde nichts mehr im Wege.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kalkül mit Zukunft", UZ vom 4. Dezember 2015



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit