Zum Charakter des russischen Staatseigentums

Kapitalistisches Russland

Von Willi Gerns

Hermann Jacobs verweist in einem Leserbrief an die UZ auf den hohen „Staatsanteil an der russischen Wirtschaft“, den er mit nahe 50 Prozent beziffert. Das kann nicht überzeugen. Als Marxisten gehen wir davon aus, dass der Charakter des Staatseigentums und seine Rolle in der Wirtschaft durch den Klassencharakter des jeweiligen Staates bestimmt werden. Unter den Bedingungen der Dominanz kapitalistischer Eigentumsverhältnisse an den wichtigsten Produktionsmitteln hat Friedrich Engels zu seiner Zeit bereits den kapitalistischen Staat als Eigentümer von Produktionsmitteln folgendermaßen charakterisiert: „Der moderne Staat, was auch immer seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. …“ (MEW Bd. 20, S. 260)

All das gilt angesichts der Eigentumsstruktur der russischen Wirtschaft und der darauf gründenden politischen Machtverhältnisse auch für den heutigen russischen Staat. Das Staatseigentum in Russland ist seinem Wesen nach staatskapitalistisches Eigentum.

Der russische Staat verfügt in der Tat noch über einen relativ hohen Anteil an der Wirtschaft. Die „nahe 50 Prozent“, die Jacobs vermutet, dürften allerdings zu hoch gegriffen sein. Und die Tendenz besteht nicht darin, diesen Anteil zu mehren. Vielmehr wird er durch Privatisierungsprogramme immer weiter abgebaut, wie die folgenden statistischen Daten zeigen.

Wie in vielen kapitalistischen Ländern werden auch in der offiziellen russischen Statistik die Anteile der verschiedenen Eigentumsformen in der Wirtschaft nicht direkt erfasst, sondern man ist gezwungen, sich ihnen über andere Kennziffern zu nähern. In Russland scheint uns dafür die Kategorie „Jahresdurchschnittliche Zahl der Beschäftigten nach Eigentumsformen“ in der jährlich von der Statistikbehörde ROSSTAT herausgegebenen Dokumentation „Russland in Zahlen“ am besten geeignet zu sein, obwohl die verschiedenen Sektoren natürlich von der Größe der Unternehmen, ihrer Ausrüstung mit moderner Technik und anderen Faktoren, und damit auch von der Beschäftigungsdichte her, beachtliche Unterschiede aufweisen können, die nicht ausgewiesen werden.

Nach „Russland in Zahlen 2016“ „ist der Anteil der Beschäftigten im staatlichen, regionalen und kommunalen Sektor an den Beschäftigten der Gesamtwirtschaft von 69,1 Prozent (1992) über 37,8 Prozent (2000) und 30,4 Prozent (2010) auf 27,7 Prozent (2015) kontinuierlich gesunken. Der Anteil des Privateigentumssektors ist dagegen entsprechend von 19,3 Prozent über 46,1 Prozent und 58,6 Prozent auf 62 Prozent gestiegen. Nimmt man noch den Sektor „gemischtes russisches Eigentum“ mit 5,1 Prozent in 2015 sowie die in der Statistik zusammengefassten Sektoren „ausländisches“ und „gemischtes russisch/ausländisches Eigentum“ hinzu, in denen sowohl russisches Staatseigentum als auch ausländisches Privateigentum angelegt sind und deren Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten 4,8 Prozent im Jahr 2015 ausmachte, so könnte man zu dem 27,7-Prozent-Anteil der Beschäftigten des Staatssektors wahrscheinlich noch etwa 5 Prozent hinzurechnen und den Anteil des Staatseigentums in der Wirtschaft für 2015 auf etwa ein Drittel und den des Privateigentums auf rund zwei Drittel schätzen. Die in der Statistik aufgeführte Rubrik „Anteil des Eigentums gesellschaftlicher und religiöser Organisationen“ an der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Wirtschaft kann mit 0,4 Prozent im Jahr 2015 vernachlässigt werden.

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"Kapitalistisches Russland", UZ vom 17. Februar 2017



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