Meisterschaft, Spiegeleiquallen und Klinsmann

Karma halt

Von Karl Rehnagel

Das Spiel war eigentlich ganz okay, also das, was wir davon sehen konnten. Nicht wirklich spannend, weil es in München viel zu früh unspannend wurde und in der einen oder anderen Situation auch glücklich (der Ball von Reus war doch 105 Prozent hinter der Linie!), aber okay eben. Das Drumherum war ein Desaster erster Kajüte. Es waren mindestens 5 000 „Fans“ gekommen, für ein Bier musste man sich 30 Minuten (!) anstellen und vor unserem Fernseher hatte sich eine riesige Schlange zur Pommesausgabe gestellt. Einige von diesen Gehirnakrobaten standen tatsächlich die komplette erste Halbzeit in der Pommesschlange. Vor unserem Fernseher. Wie bescheuert muss man denn sein? Die schöne M. versuchte noch unter Einsatz aller Kräfte, die Schlange zur anderen Seite zu dirigieren, weil da kein Fernseher hing, aber sie sprach entweder Galizisch oder die Leute waren einfach nur zu dumm. Das anwesende Volk trug schlechte Retro-BVB-T-Shirts (79,90 im In-Laden um die Ecke) und manch Mädchen hatte einen schwarz-gelben Blumenkranz im Haar. Meine Ex-Freundin, die diese Saison nicht ein einziges Mal zu einem Spiel erschienen war, thronte mit ihrem neuen Freund in der Lounge. Ich hätte im Sechseck kotzen können, hatte aber nicht allzuviel gefrühstückt und behielt das Wenige vorsichtshalber bei mir. Das sind genau diese „Fans“, die bei Weltmeisterschaften immer nur zu den Deutschlandspielen kommen und sich dabei die Bäckchen Schwarz-Rot-Gold anmalen. Event eben, Party, sehen und gesehen werden, abfeiern. Es kam heute anders und ich war wegen dieser Leute gar nicht mal böse drum. Karma halt.

Wir hatten jede/r knappe 20 Zentimeter Bank zum Sitzen. Ich war eingekeilt zwischen Gartenbro A. und der schönen M., immerhin hier gab es sicherlich deutlich schlimmere Konstellationen. Hinter uns dröhnte ein Tisch voller Jugoslawen, dabei ein Vater und drei seiner sechs erwachsenen Söhne, wie er stolz rüberbrüllte. Die Knallköppe waren so unfassbar laut, dass man sich an unserem Tisch anschreien musste. Aber sie gaben alles. Ein BVB-Song jagte den nächsten, zum Teil standen sie tatsächlich auf dem Tisch und als das erste Tor für Dortmund fiel, flippten sie komplett aus. Die Ich-brauch-unbedingt-genau-jetzt-Pommes-und-hab-Girlanden-im-Haar-Menschen gafften sie an, als sähen sie einer Formation Spiegeleiquallen beim Begattungsspiel zu. Und bei uns und vor allem bei mir drehte sich die Stimmung. Willi, Dortmunds wildester Taxifahrer, haute an unserem Tisch das nächste Liedgut raus, wir klatschten und grölten und verbrüderten uns mit dem Nebentisch und selbst U., der Mann ohne Zähne, röchelte ein fast vernehmbares „Borussiaaa“. Beim zwischenzeitlichen Ausgleich in München und unserem zweiten Tor gab es eine wildeste Mischung aus Gebrüll, Gläserklirren und Umarmungen. Die Event-Fans schüttelten ängstlich die Köpfe. Es waren doch auch Kinder da! Herrlich. Gänzlich gute Laune bekam ich, als kurz nach der Pause ein wahrer Wasserfall vom Himmel kam. Hanni und Nanni, die selbstverständlich in der Sonne saßen, weil Wettervorhersagen ja so ähnlich langweilig sind wie politische Nachrichten, lief die schwarz-gelbe Schminke davon. Die eine Hälfte der Zuschauer rannte ob des Wetters und der nicht kommen wollenden Event-Feier nach Hause, die andere stellte sich fröstelnd und klatschnass hinter uns unterm Dach auf, mit gehörigem Abstand zum Pöbel. Nach dem Schlusspfiff applaudierten unsere Tische lauthals der Mannschaft für eine letzte gute Vorstellung, die Event-Horste guckten verwirrt und schauten auf ihren 900-Euro-Handys nach, ob wir vielleicht doch Meister geworden waren. Meine Ex war verschwunden. Alles gut. Karma halt.

Und sonst? Bayern ist Meister und es gibt jetzt bereits siebenjährige Kinder, die es nicht anders kennen. Super. Schalke schaffte ein beachtliches 0:0 zu Hause (!) gegen Stuttgart. Wahnsinn. Gladbach vergeigte gegen uns die Champions-League. Dumm gelaufen. Und die wackeren Frankfurter halfen uns zwar so gar nicht in der Meisterschaft, sind aber hauchdünn nächstes Jahr noch international dabei. Skurril: weil die ihnen verhassten Mainzer die Hoffenheimer nach 0:2 noch 4:2 verputzen. Karma halt.

Ich ging noch mit der schönen M., zwei ihrer Freundinnen, zwei verrückten jugoslawischen Brüdern und mir selber, was ich erwähnen muss, weil ich meiner nicht mehr ganz so sicher war, auf „ein, zwei Bier“ in eine angrenzende dunkle Kaschemme, in der ich noch nie war und ganz sicher auch nie wieder sein werde. Urplötzlich waren außer der schönen M. und meiner Wenigkeit alle weg, wohin auch immer, und so brachte ich sie wie so oft und wie so oft sinnlos noch nach Hause. Den Rest des Weges trottete ich alleine, sinnierend über Erfolglosigkeit bei schönen Frauen und bei Meisterschaften, mit Jürgen Klinsmann im Kopf: „Das sind Gefühle, wo man schwer beschreiben kann.“ Oder anders gesagt: Karma halt.

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"Karma halt", UZ vom 24. Mai 2019



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