Äthiopien zwischen Machtkampf und Zusammenbruch

Krieg um Tigray

Zehntausende auf der Flucht, Strom, Wasser und Internet unterbrochen, das „Deutsche Rote Kreuz“ (DRK) spricht von einer „erschütternden Lage“. Dabei galt Äthiopien als Anker in einer instabilen Region, unter dem ins Amt des Ministerpräsidenten gehievten Abiy Ahmed gar als ambitioniert-voranschreitendes Projekt.

Äthiopien verbuchte gemeinsam mit den arabisch -geprägten Staaten Marokko und Ägypten 70 Prozent aller Covid-19 Infektionen des 54 Staaten beherbergenden Kontinentes, verzeichnet 125.622 Fälle (Stand: 04. Januar) auf 110 Millionen Einwohner – bei knapp 2.000 Todesfällen. Die für August 2020 anberaumten Wahlen fielen flach.

Bei diesen Wahlen hatte sich Abiy Ahmed, der 2018 ohne Legitimation durch Wahlen nach Protesten Hailemariam Desalegn beerbte, die Absolution zum Weiterregieren einholen wollen. Nachdem das Regionalparlament in Tigray, einer von neun nach ethnischen Standpunkten konstruierten „Regionen“ im Land, entgegen dem Willen Adis-Abebas Regionalwahlen durchführte, verschärfte sich die Gangart sowie die Legitimationskrise der Regierung.
Seit November letzten Jahres sprachen die Waffen – die regierungstreuen Truppen rückten, unter dem Vorwurf von Kriegsverbrechen gegen Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, vor. Im bergig-unwirtlichen Hinterland verschanzen sich nach unüberprüfbaren Informationen tausende kampferfahrene, tigrayische Soldaten. Die Region Tigray wird von der lokalen Volksbefreiungsfront (TPLF) kontrolliert, diese war zudem die stärkste Kraft in der 2019 zerschellten landesweiten Koalition „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“. Klangvolle Namen, die auf die antiimperialistischen Aufstandsorganisationen von Angola bis Palästina anspielen – die TPLF entstand in den 1970er Jahren im Intellektuellenzirkel der Universität von Tigray und war inspiriert durch Gedanken von Enver Hoxha und eine maoistische Kalaschnikow-Romantik, im oppositionellen Marsch durch die äthiopische Politik sozialdemokratisierte sich die Bewegung hin zur korrupten Bedienung von Gruppeninteressen. einem nepotischen Klientelismus. Pikantes Detail: 28 Jahre lang stellte die TPLF den Premierminister, monopolisierte Pfründe – obwohl die Volksgruppe der Tigray keine 6 Prozent des rund 60 Ethnien umfassenden Staates ausmachen.

Abiy setzte diesem Ränkespiel ein etwaiges Ende, löste die Koalition auf und versprach weitreichende Reformen: Ende des repressiven Ausnahmezustandes, von Zensur und Parteienverbot, sowie stattdessen Geschlechter- und Regionalgerechtigkeit. Im Juli 2018 schloss Abiy einen umstrittenen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea. Sein größtes Projekt aber blieb umkämpft: Äthiopien soll ein Zentralstaat mit föderal-regionalen Nuancen werden. Zur Durchsetzung seiner politischen Maximalziele war Abiy bereit, die Lunte zu zünden. Das Zynische dabei: 2019 erhielt der heutige Kriegsherr den Friedensnobelpreis aufgrund seiner „Verdienste“ rund um den Grenzkonflikt zwischen den beiden ostafrikanischen Staaten.

Der Krieg um Tigray, der mit einem Pyrrhussieg von Abiy zu Ende gegangen scheint, katapultierte das äthiopische Land in die Negativschlagzeilen: mit 16,5 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind sowie hunderttausenden Vertriebenen droht das Land an den „Reformen“ zu zerbrechen. Während wirtschaftliche Stagnation und Pandemie anhalten, nahmen Kriegsverbrechen, Gewalt und ethnische Spannungen exponentiell zu – Äthiopien, zerrissen vom inneren Kampf um Machtverteilung, droht eine Region in den Abgrund zu reißen. Das Nachbarland Eritrea ist durch seine virulente Gegnerschaft zur TPLF in den Konflikt involviert, seine Soldaten morden mit – der Sudan ist nach den vergangenen Protesten ein Wackelkandidat. Somalia wie Jemen sind Brandherde der imperialistischen Scharaden. Durch den Waffengang des „Friedensengels“ Abiy steht zu befürchten, dass eine ganze Region im Chaos versinkt.

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"Krieg um Tigray", UZ vom 8. Januar 2021



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