Kontroverse Diskussionen, aber Einigkeit in entscheidenden Punkten auf dem 29. Bundesweiten Friedensratschlag

Mit klaren Forderungen an die Öffentlichkeit

Gut 350 in der Friedensbewegung Aktive haben am 10. und 11. Dezember unter der Leitfrage „Unterwegs zu einer neuen Weltordnung – Weltkrieg oder sozialökologische Wende zum Frieden?“ im Philipp-Scheidemann-Haus in Kassel debattiert. Das Programm war so dicht getaktet, dass sich Teilnehmer zeitweise für einen von fünf Workshops entscheiden mussten.

Die Welt im Umbruch

Im Ukraine-Krieg zeige sich der Kampf zwischen dem Festhalten der USA an einer von ihr dominierten unipolaren Welt und dem Aufbruch in eine multipolare Welt. Mit dieser Einschätzung eröffnete Jutta Kausch-Henken das erste Podium des 29. Friedensratschlags, auf dem Jörg Kronauer, Christin Bernhold, Peter Wahl und Karin Kulow über die „Globale Umbruchsituation und neue Weltordnung“ diskutierten.
Der rasante ökonomische Aufstieg Chinas, aber auch die wachsende wirtschaftliche Bedeutung anderer BRICS-Staaten bedrohten die ökonomische Vorherrschaft der USA. In dieser Frage bestand weitgehende Einigkeit unter den Diskutanten. Früher hätten die USA andere Herrschaftssysteme bis zu einem gewissen Grad noch konsensuell miteinbeziehen können, doch das sei heute vorbei, sagte Bernhold, Wirtschaftsgeographin an der Universität Hamburg. Gefährlich sei, dass der ökonomische Abstieg der USA nicht mit ihrer militärischen Stärke korrespondiere. Bernhold und Kronauer erinnerten daran, dass den USA nicht mehr viel Zeit bleibe, um China militärisch aufzuhalten. Einigkeit bestand auch in der Frage, dass für die USA und die NATO-Staaten nicht der Konflikt mit Russland, sondern der mit China zentral sei.

Die Podiumsdiskussion am Samstagnachmittag war mit „Kontroversen zum Ukraine-Krieg“ überschrieben. Hier diskutierten Hermann Kopp (Bundesausschuss Friedensratschlag), Helmut Lohrer (IPPNW), Wiltrud Rösch-Metzler (Kooperation für den Frieden), Franziska Hildebrandt (SDS Hamburg) und Ulrich Schneider (FIR, VVN-BdA). Die meisten Teilnehmer des Podiums charakterisierten den Eintritt Russlands in den Ukraine-Krieg als „völkerrechtswidrig“. Der Krieg habe aber eine Vorgeschichte, hieß es, wenngleich deren Gewichtung variierte. Kopp betonte, dass Russlands Kriegseintritt die Antwort auf eine tatsächliche Bedrohung gewesen sei, auf den Versuch vor allem der USA, sich Russland gefügig zu machen. Der Krieg habe schon 2014 begonnen. Das müsse die Friedensbewegung thematisieren, damit sich die Lesart eines „unprovozierten Angriffs des ‚Schurken Putin‘“ nicht durchsetze. Lohrer unterstrich, dass die Atommacht Russland in diesem Krieg nicht besiegt werden und die Ukraine ihn nicht gewinnen könne. Er kritisierte das in Kirchenkreisen verbreitete moralische Konstrukt, man mache sich auch schuldig, wenn man keine Waffen an die Ukraine liefere.

Aufgaben der Friedensbewegung

Weshalb gelingt es der Friedensbewegung angesichts einer Atomkriegsgefahr, größer als zu Hochzeiten des Kalten Kriegs, heute nicht, Massen zu mobilisieren?

Eine Teilantwort darauf lieferte Ekkehard Sieker in seinem Workshop zum Thema „Formierung der öffentlichen Meinung und Feindbildpflege“. Der Fernsehjournalist legte dar, wie Produktionsbedingungen im Journalismus Aufklärung be- und verhindern. Medien erzählten heute fast nur noch „Geschichten“ auf Kosten von Recherche. Diese „Geschichten“ lieferten häufig neuartige PR-Agenturen, die sich dem Konzept der „strategischen Kommunikation“ verschrieben hätten und damit Einstellungen zur Ware machten.

Eine Konsequenz daraus wurde in einer Publikumsdiskussion benannt: Der substanzlose Dualismus vom Kampf zwischen „Demokratien“ und „Autokratien“ habe sich in viele Köpfe eingenistet. Der Kriegspropaganda der bürgerlichen Medien könne die Friedensbewegung noch nicht genug entgegensetzen.

Rösch-Metzler plädierte dafür, vorhandene „Schätze der Friedensbewegung“ wie die Ostermärsche zu nutzen und auszubauen. In Deutschland eine Großdemonstration zu organisieren wie die in Italien im November sei vorerst illusorisch, befand unter anderem Ulrich Schneider. Hierzulande habe es zwar inhaltlich gute Demonstrationen gegeben, die seien aber klein geblieben. Zunächst müssten regionale Strukturen der Friedensbewegung gestärkt werden. Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dag˘delen (Partei „Die Linke“) erzählte, dass Vertreter der US-Friedensbewegung in Gesprächen mit ihr immer wieder betont hätten, sie bräuchten Verbündete in Deutschland. Für eine europäische Friedensbewegung setzte sich auch Angelika Claußen (IPPNW) ein.

Der Kampf gegen den Atomkrieg könne kein rein linkes Projekt sein, sagte Helmut Lohrer unter großem Applaus. Man könne „nicht nur im eigenen Saft schmoren“. Unbedingt müsse man die Gewerkschaften einbinden, insistierte Schneider. Horst Schmitthenner (IG Metall) berichtete von den Erfahrungen der IG Metall Hanau, Warnstreiks der jüngsten Tarifrunde Metall und Elektro mit friedenspolitischen Forderungen zu verbinden. Das habe funktioniert, weil die Geschäftsstelle Hanau schon länger Bündnispartner für den Kampf um Frieden sei.

Neben Schmitthenner betonten vor allem Dag˘delen und Reiner Braun (International Peace Bureau), es sei essentiell, die Friedensfrage mit Sozialprotesten zu verbinden. Bei Aktionen in Ostdeutschland in den letzten Monaten habe die Friedensfrage immer eine zentrale Rolle gespielt, so Braun, „im Gegensatz zu Veranstaltungen der Linkspartei“. Die Friedensbewegung müsse die Hegemonie über Inhalte und Aktionen gewinnen, forderte er in einer leidenschaftlichen Rede. Gelinge es, die Ablehnung des Krieges in der Ukraine mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, könne die AfD nicht mehr bei Aktionen dabei sein. Die habe schließlich allen Aufrüstungsprojekten und Kriegseinsätzen im Bundestag zugestimmt. Dag˘delen stellte die Sanktionspolitik der Bundesregierung in den Mittelpunkt ihrer Rede. Die Wirtschaftssanktionen seien „brutale Gewalt“ und müssten gestoppt werden. Nur so ließen sich Massenverarmung und Firmensterben in Deutschland verhindern.
Mehrere Redner sprachen sich dafür aus, den Schulterschluss mit der Klimaschutzbewegung zu suchen. Wer über „Klimagerechtigkeit“ rede, ohne vom Militär zu sprechen, solle das Wort bitte nicht mehr in den Mund nehmen, verlangte Reiner Braun.

Eins kristallisierte sich in den Diskussionen schnell heraus: Die Friedensbewegung müsse mit klaren Forderungen an die Öffentlichkeit treten. Weitgehend konsensfähig wirkten auf dem Friedensratschlag die nach Friedensverhandlungen für die Ukraine ohne Bedingungen, nach Stopps der Waffenlieferungen an die Ukraine, nach einem Ende der Sanktionen gegen Russland und der Aufrüstungsorgien der Bundesregierung. Und die nach einer globalen Sicherheitsarchitektur unter Berücksichtigung der Interessen aller Länder der Welt.

Chancen für eine neue globale Friedensordnung
Konkrete Vorschläge für eine handlungsfähige UNO als Basis einer tragfähigen internationalen Sicherheitsarchitektur entwickelte der ehemalige UN-Diplomat Hans-Christoph von Sponeck am Sonntagvormittag. Alle Unterorganisationen der UNO hätten ihren Sitz im Westen und verträten westliche Interessen. Von Sponeck kritisierte, dass mit China nur ein asiatisches Land mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat vertreten sei und kein einziger Staat Afrikas und Lateinamerikas. Es siege „das Recht der Macht, nicht die Macht des Rechts“. Internationale Organisationen würden zunehmend für politische Zwecke missbraucht. Als Beispiel führte er Falschmeldungen der OPCW zu einem angeblichen Chemiewaffeneinsatz im syrischen Duma an, mit denen Bombenangriffe „legitimiert“ worden seien.

Schon seit 1955 debattiere man über eine Reform der UNO, doch die werde weiterhin verschleppt. Eine solche Reform müsse langfristig die Unabhängigkeit der UNO herstellen, die Rolle des UN-Generalsekretärs stärken und nichtstaatliche Organisationen einbinden. Kurz- und mittelfristig müssten die Rechte der Generalversammlung erheblich erweitert werden und der Sicherheitsrat so umstrukturiert werden, dass Afrika, Asien und Lateinamerika angemessen repräsentiert würden. Zudem müsse das Budget der UN deutlich erhöht werden – zur Zeit sei es geringer als das der New Yorker Polizei. Überlebensfähig sei die Welt nur, wenn der von der UN-Charta vorgesehene Multilateralismus ernst genommen werde.
Für Defätismus gebe es keinen Platz, schloss von Sponeck seinen Vortrag. Er appellierte an die Teilnehmer, den Mut zu zeigen, die eigene Vernunft zu entfalten.

Die Angriffe der Politik und bürgerlichen Medien auf die Friedensbewegung belegen: Deren Forderungen beginnen Wirkung zu zeigen.


Die Abschlusserklärung des 29. Friedensratschlags sowie Redebeiträge, Mitschnitte und Bilder sind unter friedensratschlag.de abrufbar.


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"Mit klaren Forderungen an die Öffentlichkeit", UZ vom 23. Dezember 2022



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