Häuten: Tut zwar nicht weh, sieht aber scheiße aus. Und drüber lesen ist auch nicht schön.

Nicht an Suizid denken

Merkel ist weg. Sie musste. Scholz ist da. Auch er muss ja. Alles passiert von sich aus. Wie Häuten. Das wird registriert und zwar präzis: Was macht die hauptamtliche Umdekorierung mit mir? Beim überwachen Schlafwandeln wird vom eigenen Sentiment direkt und transzendent auf das große Ganze, das Universale geschlossen. Das Politische als lästig-notwendigen, vergänglichen Zwischenbau überspringt das Neobiedermeier: Das Treiben um mich her, schau, ich habe verstanden, was es mit mir macht!

2020 erschien Leif Randts „Allegro Pastell“ und damit der geniale Roman in Zeiten abnehmenden Kontrollverlusts des innig interagierenden Individuums. Offen für die nächste Nähe, gefühlsdurchlässig, lebensphilosophisch. Spürte Michel Houellebecqs eskalierender Ich-Erzähler in dessen Romandebüt „Ausweitung der Kampfzone“ (1994) die eigene Haut noch als Grenze zum Außen und dessen Bewohnerinnen und Bewohnern, dann hat die Literatur der frühen 2020er jene Haut säuberlich abgelegt, genauso wie sie Chauvi-Schweinereien wie die von Houellebecqs Alter-Ego-Egoisten ablehnt.
So auch der Roman „Prana Extrem“. Joshua, der mindestens namentlich von seinem Schöpfer Joshua Groß abgepauste Erzähler, ist zurückhaltender Autorinnenpartner, der nach dem Sex mit Menstruationsblut auf seinem Bauch die alte Grenze übermalt. Seine Sprache ist temperiert, Ausrutscher ins Unflätige sind so rar, ein Macker oder Misanthrop spricht und vor allem denkt ganz anders als: „Meistens habe ich das Gefühl, dass ich lange brauche, um irgendwas zu verstehen, manchmal fast ewig. Allerdings konnte ich langsam begreifen, dass ich mich selbst nicht hatte ausfüllen wollen, sondern oft nur verfickt zuvorkommend einübte, mich selbst aufzugeben. Das wollte ich wieder verlernen und mich trotzdem hingeben.“

Reflektier Joshua ist im Hitzesommer Freundin Julia nach Innsbruck gefolgt, die als Stadtschreiberin an ihrem Buch arbeitet, während Jo-shua liest, Fan-Fiction schreibt und Espresso mit Schlagsahne trinkt. Bei solchem Zeitvertreiben lernt er das 16-jährige Skisprungtalent Michael kennen, der von seiner Schwester Johanna trainiert wird, deren Karriere ein kaputtes Knie frühzeitig beendete. Joshua und Lisa ziehen bei den beiden ein und beginnen ein symbiotisches Leben miteinander. Alles tutti, alles gelingt.

Die komplette Ansatzlosigkeit, mit der Joshua und Michael ins Gespräch kommen – immerhin das alles Weitere auslösende Moment – verweist nicht nur darauf, dass der flache Handlungsbogen kein reiner Ausdruck der Grundidee scheint, hier Allzubehagliches auszustellen, sondern auch schlicht Resultat von Motivationsmangel. Der Plot plätschert. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass mir mein Leben entglitt. Im Gegenteil, ich hatte mich innerhalb meines prekären Daseins noch nie so stabil gefühlt. An Suizid dachte ich überhaupt nicht“, sagt Joshua kontraintuitiv. Er verrät sich damit nicht nur selbst, er sagt es uns auch als Bitte, nicht zuzuklappen.

Anders als das manische Balancieren, das das Pärchen (auch hier eine Autorin darunter) im Mailroman „Allegro Pastell“ performt, kehrt bei Joshua Groß zum Austarieren in Ansätzen jener Hedonismus der 1990er, der Faserländer Krachts und Stuckrad-Barres Soloalben, zurück. Es wird regelmäßig gekifft, Weltraumgestein geklaut und beim Training der eigene Körper geschunden. War bei Randt noch die Zufriedenheit schauspielfrei, deuten allein schon Groß‘ Dialoge darauf hin, dass sich hier wieder Grenzen schließen:

„Vorhin wurde die Ferienwohnung gebucht, für übermorgen schon.

Unsere Wohnung?, fragte Lisa.

Ja, eure Wohnung, lächelte Johanna traurig, und Papa hat nicht erlaubt, dass ich den Gästen absage.

So ein elender Wichser, sagte Michael. Dann begann er vor Wut zu weinen.

Belastend und unnötig, sagte ich.“

Ein Familienkonflikt, der eine überzogene wie nachfühlbar-pubertäre Reaktion einerseits auslöst und auf den Joshua mit dem Duktus einer Pressemitteilung reagiert. Joshua macht dicht.

Das Gebrabbel von Antimaterie und Atmosphären, die „zunehmend dunkelgelb“ würden, die noch im Herbst vor Hitze brütende Landschaft voller riesiger Libellen – all das schlägt dazu um, hier keinem schrulligen Esoteriker mit Hang zum Prokrastinieren zu folgen, sondern einen Hilferuf zu lesen: Holt mich raus aus meiner Haut, eure sind euch doch auch zu eng!


Joshua Groß
Prana Extrem
Matthes & Seitz Berlin 2022
260 Seiten, 24 Euro


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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Nicht an Suizid denken", UZ vom 26. August 2022



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