Minijobber, Leiharbeiter, Jugendliche und Kulturarbeiter landen auf der Straße

Ohne Rettungsschirm

Die Meldung der Bundesagentur für Arbeit (BA) der vergangenen Woche sollte wohl Optimismus in der Krise verbreiten. Der Vorstandsvorsitzende der BA, Detlef Scheele, verkündete einen kräftigen Rückgang von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit in Deutschland – wenngleich sich auch „am Arbeitsmarkt (…) deutliche Spuren der ersten Welle der Corona-Pandemie“ zeigten. Im schriftlichen Monatsbericht liest sich die Einschätzung schon anders: Investitionen deutlich unter Vorkrisenniveau, Investitionserwartungen negativ, Geschäftsklimaindex sinkt, Abkühlung der Baukonjunktur und Einbrüche im Konsum bereits im September. Unsicherheitsfaktoren seien die steigenden Corona-Infektionen und die bereits vor den aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung erhöhten Ankündigungen von Kurzarbeit. Mit dem Lockdown zum Wochenbeginn dürften sich die Illusionen von einer nur kurzfristigen Konjunkturdelle zerschlagen haben.

Der Lockdown II ist alles andere als „light“. Er ist erneut darauf ausgerichtet, die Produktion aufrechtzuerhalten und stattdessen das gesellschaftliche Leben massiv einzuschränken. Damit trifft er insbesondere das Hotel- und Gaststättengewerbe, in dem nach den neuerlichen Einschränkungen und dem Ende der Aussetzung der Insolvenzanzeigepflicht eine dramatische Pleitewelle droht. Gleiche dramatische Entwicklungen erwartet die Initiative „Alarmstufe Rot“ der Veranstaltungswirtschaft. In der Branche sind nach eigenen Berechnungen derzeit etwa eine Million Menschen in ihrer Existenz bedroht, da faktisch seit dem Pandemiebeginn keine Aufträge mehr vorhanden sind.

Inzwischen wird von verschiedenen Instituten belegt, dass die Auswirkungen der Pandemie seit März deutliche soziale Folge haben. Das Düsseldorfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) machte in einer Studie deutlich, dass „die Krise bereits bestehende soziale Ungleichheiten verschärft, da sie vor allem jene trifft, die auch vor der Krise über eher geringe Ressourcen verfügten“. Fazit: Je schwächer die Position auf dem Arbeitsmarkt, desto stärker die Einkommensverluste. Am deutlichsten spüren dies Minijobber, Leiharbeiter und Menschen mit Migrationshintergrund. Ebenso sind Eltern mit Kindern deutlicher von Einkommensverlusten betroffen als kinderlose Werktätige. Bereiche, in denen Betriebsräte wirken und Tarifverträge vorhanden sind, sind weniger von den Auswirkungen berührt.

Besonders betroffen ist die Jugend. Eine Analyse des Berliner Forschungsinstitutes für Bildungs- und Sozialökonomie (FIBS) verzeichnet einen negativen Trend seit dem Frühjahr in der Jugendarbeitslosigkeit und prognostiziert ein Ansteigen um 40 Prozent. Hochschulabsolventen und beruflich Qualifizierte seien zwar auch betroffen, aber die Zukunftsaussichten für geringqualifizierte junge Menschen seien besonders düster. Die Anzahl der Berufsausbildungsplätze befindet sich ohnehin auf einem geringen Niveau und sinkt weiter. Aktuell suchen mehr als 200.000 Jugendliche einen Ausbildungsplatz.

Der Lockdown II wird die Krisentendenzen verstärken. Die sich daraus ergebenden sozialen Konflikte sind bereits sichtbar und werden die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft in den nächsten Jahren bestimmen. Hier kommt den Gewerkschaften als größte organisierte Kraft der Werktätigen eine zentrale Rolle zu. Dazu müssen sie allerdings über die – wenn auch häufig erfolgreiche – reine Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen, die Forderung nach Konjunkturprogrammen beziehungsweise die Kritik an der fehlenden „sozialen Gerechtigkeit“ hinausgehen. Zwingend ist die Erarbeitung eigener Alternativen zur bestehenden Politik und deren Durchsetzung mit Aktionen im Bündnis mit sozialen und gesellschaftlichen Bewegungen.

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"Ohne Rettungsschirm", UZ vom 6. November 2020



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