Während die Briten hungern und frieren, wird ein Multimillionär Premierminister in London

Reicher als der König

Britannien bekommt einen neuen Premierminister – schon wieder. Rishi Sunak löste Liz Truss nach nur sechs Wochen ab, nachdem diese am vergangenen Donnerstag ihr Amt niedergelegt hatte. Ihre Amtszeit ist die kürzeste der Geschichte und damit Ausdruck der Krise des britischen parlamentarischen Systems. Nachdem ihr Vorgänger Boris Johnson angesichts zahlreicher Skandale das Handtuch hinwarf, inszenierte sich Truss als neue Thatcher, allerdings ohne deren politische Expertise. Der Budgetplan ihrer Regierung vom September mit Steuerkürzungen für die Reichen und ohne einen Vorschlag, die entstehenden Ausfälle zu kompensieren, führte zum Einbruch des Pfundes und der Staatsanleihen. Die Planlosigkeit war auch der Kapitalseite zu heiß, Truss musste gehen. Ihr folgt nun Sunak, der bereits im September ihr Konkurrent gewesen war. Sogar eine Rückkehr Johnsons stand kurzzeitig im Raum, dieser zog allerdings bereits am Sonntag seine Kandidatur zurück. Sunak, im Gegensatz zu Truss deutlicher Gegner von Johnson, hatte mit seinem Rücktritt als Finanzminister im Juli zu dessen Niedergang beigetragen. Er verspricht nun „Stabilität und Einheit“ – für wen, daran besteht bei dem Multimillionär wenig Zweifel. Während er als Finanzminister die Steuern für die Bevölkerung angehoben hatte, hatte seine Ehefrau Akshata Murty, als Tochter eines indischen IT-Unternehmers eine der reichsten Frauen Großbritanniens, erst nach scharfer Kritik im April begonnen, überhaupt ihr Einkommen aus Übersee im Vereinigten Königreich zu versteuern. Mit Sunak übersteigt der Reichtum der Familie in 10 Downing Street das erste Mal das des Königs im Buckingham Palace, wie der Guardian berichtete.

All dies findet statt, ohne dass die britische Bevölkerung auch nur der Form halber ein Kreuzchen auf dem Papier machen darf. Entschieden wurde die Nachfolge durch die konservativen Abgeordneten: Sunak fand als einziger mehr als die 100 erforderlichen Befürworter, um Truss’ Nachfolge als Parteivorsitzender und damit auch als Premierminister anzutreten. Angesichts dessen ist es wenig erstaunlich, dass die Forderung nach Wahlen von beinahe allen politischen Kräften abseits der Konservativen Partei immer lauter wird und der Unmut immer größer, dass die Tories sich darauf nicht einlassen. Der Gewerkschaftsbund TUC twitterte nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses: „Fünf Premierminister in nur sechs Jahren. Vier Finanzminister in vier Monaten. Und nachdem sie die Wirtschaft ruiniert haben, wollen sie, dass ihr dafür bezahlt. Wir brauchen keinen weiteren nicht gewählten konservativen Premierminister. Wir brauchen Neuwahlen.“ Geteilt wird die Forderung von der Schottischen Nationalpartei SNP, den Grünen und den Liberaldemokraten, aber am deutlichsten formuliert sie die sozialdemokratische Labour-Partei. Diese hat dabei vor allem ihren Vorsprung in den Umfragewerten im Blick: Medienberichten zufolge liegt Labour in den Umfragen der letzten Woche durchschnittlich mit 53 Prozent der Stimmen 33 Punkte vor den Tories.

Doch für den überwiegenden Teil der Bevölkerung böte auch Labour wenig Hoffnung, die die aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten zu lösen. Gerade angesichts dessen, dass der linke Labour-Flügel in den letzten Jahren systematisch abgesägt worden ist und die aktuelle Spitze bestenfalls rechtssozialdemokratisch ist. Vorsitzender Keir Starmer weigert sich notorisch, sich hinter die derzeit in vielen Bereichen Streikenden zu stellen.

Unterdessen verschärft sich die Krise der Lebenshaltungskosten weiter. Jeden Tag verdeutlichen neue Meldungen, wie sehr ein großer Teil der Bevölkerung bereits jetzt mit den gestiegenen Lebensmittel- und Energiekosten zu kämpfen hat. Ein Siebtel der britischen Bevölkerung lässt inzwischen Mahlzeiten ausfallen, in manchen Gegenden sogar deutlich mehr, wie eine vergangene Woche veröffentlichte Studie des Gewerkschaftsbundes TUC ergab. Über die Hälfte der Bevölkerung heizt weniger oder reduziert den Gebrauch von Strom und Warmwasser. Einem Bericht der „Food Foundation“ zufolge leben vier Millionen Kinder ohne ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln. Schulleiter warnten davor, dass neun von zehn Schulen infolge der Krise kein Geld mehr haben würden, wie der „Morning Star“ am Wochenende berichtete.

Die Gewerkschaften fordern deshalb nicht nur eine allgemeine Wahl, sondern setzen mit Streiks auf ihre eigene Durchsetzungskraft. Am Montag begann für die Krankenwagenfahrer im Nationalen Gesundheitssystem die Urabstimmung, um über einen Streik für mehr Geld zu entscheiden. Die Beschäftigten seien sehr wütend angesichts dessen, dass die von der Regierung beschlossene vierprozentige Lohnsteigerung einen massiven Reallohnverlust darstelle, so ein Vertreter der Gewerkschaft GMB laut dem Sender „BBC“. Die Transportgewerkschaft bereitet bereits weitere Streiks vor, auch die Universitätsangestellten stimmten für den Ausstand, um bessere Bezahlung zu erkämpfen.

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"Reicher als der König", UZ vom 28. Oktober 2022



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