Die gegenwärtige Etappe: der Kampf um eine multipolare Weltordnung – Teil 1

Selber nachdenken statt auswendig lernen

In Auswertung ihres 25. Parteitages wird in den Gliederungen der DKP derzeit das Referat des Parteitags diskutiert. Dabei geht es schwerpunktmäßig um den Epoche-Begriff und die genauere Bestimmung der Etappe, in die die gegenwärtigen Klassenkämpfe einzuordnen sind. Wir drucken hier Auszüge aus dem Referat Kurt Baumanns bei der DKP Kassel redaktionell überarbeitet ab. Unser Autor beginnt seine Ausarbeitung mit der Einschätzung des Ukraine-Kriegs durch den 24. Parteitag und die Weiterentwicklung dieser Position.

Teil 2 folgt in der kommenden Ausgabe von UZ.

Bereits im Beschluss des 24. Parteitags schätzten wir ein:

„Die von der NATO, dem US- und dem deutschen Imperialismus mit aller Gewalt verteidigte Vorherrschaft, ihre Welt,ordnung‘, führt zu Kriegen und Elend. Dem setzt die VR China eine Politik der friedlichen Koexistenz entgegen. Sie ist eine Möglichkeit, das internationale Kräfteverhältnis zugunsten der fortschrittlichen, sozialistischen Kräfte zu verschieben und damit dazu beizutragen, den Weg zum Sozialismus in weiteren Ländern zu öffnen. Nur eine sozialistische Gesellschaftsordnung kann einen dauerhaften Frieden und eine Welt frei von Ausbeutung und Krieg gewährleisten.“

Bereits hier werden die beiden Seiten der Widersprüchlichkeit der aktuellen Entwicklung angedeutet: Die imperialistischen Länder kämpfen gegen den Abstieg ihrer Weltordnung. Dabei setzen sie vermehrt auf Aggression und Krieg, vor allem gegen die VR China. Das fällt dem US-Imperialismus deutlich leichter als dem deutschen, da dieser sich in seinem Aufstiegskampf wirtschaftlich viel enger mit der VR China – und auch mit Russland – verflochten hatte. Die andere Seite des Widerspruchs treibt zur Lösung der epochalen Aufgabe, zur Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse, zur sozialistischen Revolution.

In den „Marxistischen Blättern“ beschrieb Beate Landefeld die widersprüchliche Situation der imperialistischen Staaten im Ukraine-Krieg, die Ausdruck der oben beschriebenen Tendenzen ist:

„Ökonomisch wollten USA und EU mit nie dagewesenen Sanktionen Russland destabilisieren. Russland verkraftet sie. Die Welt unterstützt sie mehrheitlich nicht. Sie schaden primär der EU, fördern die Inflation, schwächen Dollar und Euro als Reservewährungen. Auf Dauer überfordert die Finanzierung der Ukraine den Westen.

Politisch setzte man auf internationale Isolierung und Regime Change in Moskau. Das erwies sich als Illusion. Putin sitzt fest im Sattel. International war Russlands Isolierung nur im Westen erfolgreich, nicht in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Militärisch bestätigte sich Obamas Hinweis, Russland verfüge in der Ukraine über ‚Eskalationsdominanz‘. Die ukrainische Armee ist überdehnt. Sie verbraucht mehr Waffen als die NATO-Länder herstellen können. Diesen fehlt nach 30 Jahren Neoliberalismus und ‚War on Terror‘ die industrielle Basis für einen Abnutzungskrieg.

Auch ideologisch sind die Kräfteverhältnisse nicht statisch: Zwar dominiert im Westen klar die NATO-Propaganda, aber in Asien, Afrika und Lateinamerika wächst die Kritik an westlichen Doppelstandards und wird offener artikuliert als zuvor.“

Die gegenwärtige Etappe

Mit der erneuten Aneignung der Begriffe „Epoche“ und „Etappe“ hat sich die DKP auf ihrem 25. Parteitag ein weiteres Stück des Marxismus-Leninismus für die Analyse der Gegenwart erschlossen – ein Stück ihres „Traditionsbestands“. Zur aktuellen Etappe erklärte Patrik Köbele auf dem Parteitag:

„Das durch die Konterrevolution in den europäischen sozialistischen Ländern veränderte Kräfteverhältnis hat zwar vor etwas mehr als 30 Jahren die Phase der Befreiung aus Kolonialismus und Neokolonialismus beendet, offensichtlich hat sich aber in den letzten 10 bis 15 Jahren wieder etwas geändert und bildet die Grundlage für eine neue Welle des Kampfes um die neokoloniale Befreiung.

Es liegt auf der Hand, dass die dafür erweiterten Spielräume vor allem etwas mit der Entwicklung der VR China zu einem der führenden Pole in der weltweiten Machtkonstellation zu tun haben. Wenn wir in diesem Zusammenhang davon sprechen, dass die Tendenz zur ‚Multipolarität‘ zu begrüßen ist, dann hat das nichts mit Illusionen zu tun, das ist noch nicht eine Etappe, in der der Sozialismus von Sieg zu Sieg rennt, aber es ist die Etappe, die möglicherweise den Weg dorthin öffnet. Es kann eine Etappe werden, in der das Kräfteverhältnis zwischen Imperialismus und Antiimperialismus ausgeglichener ist, und dass das Fortschritt ist, das beginnen ganz offensichtlich viele Völker außerhalb Europas schon recht deutlich zu spüren.“

Diese Etappe, in der die Völker um eine multipolare Weltordnung kämpfen, muss auch für unsere aktuelle Fragestellung erkenntnisleitend sein. Aus dieser Etappe ergeben sich Kriterien, wie sie relativ früh in dieser Diskussion etwa Landefeld erarbeitet hat:

„In der VR China wurde 2014 der 60. Jahrestag der Verkündung der ‚Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz‘ gefeiert. Xi Jingping betonte die wachsende Bedeutung der ‚Fünf Prinzipien‘ in der ‚neuen Ära der Globalisierung‘. Friedliche Koexistenz, Respekt, gleichberechtigte Kooperation, Nichteinmischung sind einzuhalten, um lokale Kriege einzudämmen und Großmachtkriege zu verhindern. Auch Befreiungs- und Ausbruchsversuche aus Imperialismus und Kapitalismus, demokratische und sozialistische Entwicklungen sind darauf angewiesen. Dem Völkerrecht, welches die NATO-Staaten seit dem Zerfall der Sowjetunion in den Orkus versenken wollten, muss erneut Geltung verschafft werden. Das wird im Kapitalismus nie allein durch Diplomatie oder durch das Gewicht der BRICS passieren. Es ist im außerparlamentarischen Kampf durchzusetzen.“

Diese Prinzipien werden angewandt in der chinesischen Position zur Lösung des Ukraine-Konflikts, die wir auf dem 25. Parteitag wie folgt eingeschätzt haben:

„Dagegen setzt die Volksrepublik China im internationalen Klassenkampf als Gegenschlag ihr ganzes Gewicht mit ihrem 12-Punkte-Plan vom 24. Februar 2023 zur nachhaltigen Lösung des Ukraine-Konflikts auf multilaterale Kooperation unter dem Regelwerk der Vereinten Nationen, statt auf eine unilaterale, US-dominierte, sogenannte ‚regelbasierte‘ Weltordnung.“

Es ist klar, dass diese zwölf Punkte keine Strategie in Richtung Sozialismus sind, aber sie weisen den Weg auf im Friedenskampf gegen den Hauptkriegstreiber, den US-Imperialismus, und den Hauptfeind der deutschen Arbeiterklasse, den deutschen Imperialismus. Es geht darum, das internationale Monopolkapital zu zwingen, auf der Ebene der ökonomischen Auseinandersetzung zu bleiben und alles dafür zu tun, die militärische Eskalation zu verhindern. Diese Perspektive durchzusetzen bestimmt die gegenwärtige Etappe. Sie ist bestimmt durch die internationalen Kräfteverhältnisse und entspricht den Interessen der internationalen Arbeiterklasse und der Völker.

„Imperialistischer Ökonomismus“

An dieser Position der DKP gibt es von verschiedenen Seiten Kritik. Als Beispiel nehmen wir die alternative Erklärung des 22. Treffens der kommunistischen und Arbeiterparteien, die inzwischen von einem Teil der Kommunistischen Organisation (KO) und der MLPD unterschrieben wurde. Um uns für diese Diskussion zu wappnen und unsere Position zu festigen, nutzen wir die Analysen Lenins.

In „Was tun?“ verteidigte Lenin die von Friedrich Engels formulierten drei Ebenen des Klassenkampfs: die politische, die ideologische und die ökonomische. Er erkannte dabei, dass die Einheit dieser drei Ebenen die Voraussetzung für die Schaffung einer revolutionären Partei ist und eine ökonomistische Beschränkung zu politischer Kurzsichtigkeit und ideologischer Beliebigkeit sowie zum Verfall der Parteiorganisation führt.

Der „imperialistische Ökonomismus“ ist eine unter den Bedingungen des Imperialismus wieder entstandene Form dieser opportunistischen Abweichung:

„Die Einschätzung des gegenwärtigen Krieges (gemeint ist hier der Erste Weltkrieg 1914 bis 1918 – KB) als imperialistischer Krieg, der Hinweis auf seine tiefverwurzelte Verbindung mit der imperialistischen Epoche des Kapitalismus, findet neben ernsten Gegnern auch unernste Freunde, für die das Wort Imperialismus eine ‚Mode‘ geworden ist, die dieses Wörtchen auswendig gelernt haben, die die ärgste theoretische Verwirrung in die Köpfe der Arbeiter tragen und eine ganze Reihe der alten Fehler des alten ‚Ökonomismus‘ wiederauferstehen lassen. Der Kapitalismus hat gesiegt – deshalb braucht man über die politischen Fragen nicht nachzudenken, meinten die alten ‚Ökonomisten‘ der Jahre 1894 bis 1901 und gingen so weit, dass sie den politischen Kampf in Russland ablehnten. Der Imperialismus hat gesiegt – deshalb braucht man über die Fragen der politischen Demokratie nicht nachzudenken, sagen die heutigen ‚imperialistischen Ökonomisten’.“

Alles Imperialismus?

Als Bestandteil seiner Auseinandersetzung mit dem „imperialistischen Ökonomismus“ griff Lenin auf die Ausarbeitungen in der Broschüre „Sozialismus und Krieg“ zurück, in der die Bolschewiki ihre Analysekriterien zur Bewertung und Beurteilung von Kriegen darlegten.

Unter den „gerechten Kriegen“ seien sogenannte „nationale Kriege“, die man daran erkenne, dass ihnen „ein lang andauernder Prozess nationaler Massenbewegungen zugrunde lag, ein Prozess des Kampfes gegen Absolutismus und Feudalismus, der Beseitigung nationaler Unterdrückung“.

Schauen wir uns vor dem Hintergrund dieser Definition die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges an. Die Ukraine war sowohl für die „transatlantisch“ als auch für die „mitteleuropäisch“ orientierte Fraktion des deutschen Imperialismus zu eroberndes Territorium. Der deutsche Imperialismus versuchte nach der Konterrevolution 1989/90, ökonomisch und politisch vor allem über die EU an Einfluss zu gewinnen und förderte so den Umsturz in der Ukraine mit Personal und Geld. Das veränderte das politische Klima in der Ukraine nach dem Maidan-Putsch.

Willi Gerns analysierte 2015 in den „Marxistischen Blättern“:

„Gefahren (für die Bevölkerung der Ukraine – KB) gehen allerdings nicht nur von den Faschisten aus, sondern auch von den prowestlichen, neoliberal orientierten Kräften in der Kiewer Putschregierung und ihrem Umfeld. Das gilt in besonderem Maße auch für die von Russophobie zerfressene Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die bei den Wahlen im Mai ukrainische Ministerpräsidentin werden will. In einem abgehörten Telefonat mit dem Vizechef des ehemaligen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Nestor Schufritsch, das auf YouTube veröffentlicht wurde, hat sie sich für die Erschießung der ‚verdammten russischen Hunde‘ ausgesprochen und erklärt, sie würde all ihre ‚Beziehungen geltend machen und die ganze Welt erbeben lassen, damit von Russland nur noch verbrannte Erde übrig bleibt‘. (…) Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen charakterisierte der Erste Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Pjotr Simonenko, auf dem 47. Außerordentlichen Parteitag seiner Partei am 25. März die im Ergebnis des Februar-Putsches entstandenen neuen Machtverhältnisse in der Ukraine als ‚nationalfaschistisches Regime‘. Die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Krim hat sich beim Referendum am 16. März nicht zuletzt auch darum für die Rückkehr nach Russland entschieden, weil sie nicht unter einem solchen Regime leben will.“

Russlands Eingreifen – die Erfüllung des Wunsches der Bevölkerung der Krim, zu Russland zurückzukehren – war die Voraussetzung für die Verteidigung der demokratischen Rechte eben dieser Menschen. Auf der Krim ist – im Gegensatz zur Ukraine – die Kommunistische Partei nicht verboten, sondern aktiv, es dürfen Gewerkschaften und Antifaschisten offen arbeiten. Wer sich der Faschisierung der Ukraine entgegenstellen wollte, musste sich an die Seite Russlands stellen. Letzeres war bedroht durch die Strategie der absteigenden imperialistischen Staaten, Russland die Nutzung etwa des Flottenstützpunktes Sewastopol unmöglich zu machen und es damit in eine militärische Schwächeposition zu bringen. Die Interessen der Bevölkerung der Krim und die nationalen Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation stimmten folglich überein. Diese Übereinstimmung hat 2015 kaum jemand bestritten, sie wird nur bis heute weitgehend verschwiegen.

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"Selber nachdenken statt auswendig lernen", UZ vom 7. Juli 2023



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