Abpfiff: 13 Jahre lang hielt sich die „Arbeiterregierung“ in Brasilien an die Regeln – und verlor trotzdem

Spiel nach den Regeln des Systems

Von Maria Galvão und António Veiga

Die Regierungszeit der „Arbeiterpartei“ (Partido dos Trabalhadores – PT) in Brasilien währte 13 Jahre. Sie ist mit der endgültigen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff im Sommer dieses Jahres abrupt zu Ende gegangen. Eine erste vorsichtige Bilanz der Auswirkungen dieser Regierung auf die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Volksschichten lohnt. Wie können wir dieses Projekt einschätzen, das untrennbar mit dem Namen Lula – Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident Brasiliens zwischen 2003 und 2011 – verbunden ist?

Partei der Arbeiterklasse? Oder bürgerliche „Arbeiterpartei“?

Gegründet wurde die PT am 10. Februar 1980 in São Paulo, mehrheitlich von Intellektuellen und Gewerkschaftsführern. Von Beginn an saß ein ganzes Sammelsurium unterschiedlicher, mal mehr, mal weniger radikaler linker Splittergruppen mit im Boot. Gebaut wurde die PT damals auf mehrere Säulen: 1. Die Klassenbasis – in der Tat organisierten sich viele ArbeiterInnen, insbesondere gewerkschaftlich organisierte, in der PT. 2. Die politische Abgrenzung von der kommunistischen Bewegung. Und 3. das klare Bekenntnis zur Bewahrung der kapitalistischen Verhältnisse.

Bereits im Gründungsmanifest der PT von 1980 wurde unmissverständlich deutlich gemacht, welchen Weg die PT einschlagen wird: „Es ist notwendig, dass der Staat zu einem Ausdruck der Gesellschaft wird. Dies wird nur möglich sein, wenn die Bedingungen eines freien Eingriffs der Arbeiter in die Entscheidungen über die Ziele des Staates geschaffen werden. Daher strebt die PT an, an die Regierung und die Führung des Staates zu gelangen, um eine demokratische Politik aus der Sicht der Arbeiter zu realisieren – in der Wirtschaft und im Sozialen.“ Die PT folgte also von Anfang an einer klassisch sozialdemokratischen Orientierung.

Die Zeit ist reif: Regieren in wessen Interesse?

22 Jahre später, im Jahr 2002, war es dann endlich soweit: „Lula“, der bereits zum vierten Mal kandidierte, wurde Präsident der brasilianischen Republik. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise: Die Auslandsschulden des brasilianischen Staates beliefen sich auf 230 Milliarden Dollar, die Inflation galoppierte und Investoren zogen große Mengen an Kapital aus dem Land ab. Um die Jahrtausendwende schloss die Vorgängerregierung unter Fernando Cardoso mehrere Verträge mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über finanzielle Unterstützung und verpflichtete sich dafür zu großen Strukturanpassungsprogrammen. Der letzte dieser Verträge über ca. 30 Milliarden Dollar wurde kurz vor der Wahl „Lulas“ zum Präsidenten abgeschlossen – und der IWF pochte auf eine Verpflichtung aller Präsidentschaftskandidaten, dass sie im Falle ihres Wahlsiegs die geforderten Anpassungen umsetzen würden. Der Zeitpunkt für „Lula“ war gekommen, sein Image als „scharfer Kritiker des IWF“ endgültig abzulegen und zu einem offenen Verfechter einer rigorosen Austeritätspolitik zu werden.

In seiner „Carta ao Povo Brasileiro“ (Brief an das brasilianische Volk), verfasst inmitten des Wahlkampfs, findet er klare Worte: „Voraussetzung dieses Übergangs [zu einer „neuen Gesellschaft“ – die Verf.] wird natürlich die Respektierung der Verträge und Verpflichtungen des Landes sein“. Weder IWF noch US-Regierung zweifelten zu diesem Zeitpunkt ernsthaft an der Vertrauenswürdigkeit von „Lula“. In vorauseilendem Gehorsam richtet sich die neue brasilianische Regierung nach dem Wahlsieg in einer ihrer ersten Amtshandlungen mit einem „Letter of Intent“ an den IWF und machte deutlich, dass sie bereit war, alle notwendigen Maßnahmen (u. a. Anhebung des Rentenalters, Flexibilisierung der Arbeit u. a.) zu ergreifen, um die Schulden zu bezahlen.

Doch nicht nur auf dem internationalen Parkett, auch in Brasilien selbst zeigte sich „Lula“ unzweifelhaft als treuer Freund der Bourgeoisie. Bereits vor der Wahl betonte die PT in einem gemeinsamen Dokument mit hochrangigen Vertretern der Finanzbranche die wichtige Rolle der brasilianischen Kapitalmärkte, um Wirtschaftswachstum wiederzuerlangen. Konkreter Ausdruck dieses Klassenkompromisses war die Wahl José Alencars von der rechtskonservativen Liberalen Partei (Partido Liberal – PL), Besitzer eines der größten Textilunternehmen des Landes, zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten.

Soziale Maßnahmen einer bürgerlichen Regierung

Eine Analyse wichtiger Maßnahmen der Sozialpolitik der Regierungsperiode der PT (2003–2016) zeigt deutlich, in welcher Art und Weise die Partei versucht hat, sich einerseits die Unterstützung der unterdrückten Volksschichten (und insbesondere der Arbeiterklasse) zu sichern, andererseits jedoch gleichzeitig die Bourgeoisie enorm zu begünstigen. Diese Maßnahmen können vor allem durch die sogenannten Programme zur „Umverteilung des Einkommens“ und die Bereitstellung von Krediten charakterisiert werden. Zwar wurden insbesondere in den letzten Jahren Kürzungen an diesen Programmen vorgenommen, sie sind jedoch weiterhin in Kraft.

Zentral für die Integration der armen Volksschichten ist die „Bolsa Família“, der „Familiengeldbeutel“, das populärste unter den Programmen der PT-Regierung. Es handelt sich dabei um eine finanzielle Leistung des Staates für Familien, deren Einkommen bei ungefähr einem Fünftel des Mindestlohns liegt. Die Leistung wird dann gewährt, wenn die Familien bestimmte Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge und die Schulpflicht für Kinder einhalten. Die Leistungen, die so von der Regierung gezahlt wurden, hatten in der Tat große Auswirkungen auf die Kaufkraft der Ärmsten der Armen. Jedoch war die Höhe der gezahlten Leistung von Beginn an weit davon entfernt, wirklich ein Überleben zu sichern. In den letzten Jahren blieben die Programmwerte konstant in Bezug auf den Mindestlohn, d. h. immer etwa ein Fünftel seines Wertes. Vor dem Hintergrund, dass auch der nominale Mindestlohn selbst deutlich unter den realen Lebenshaltungskosten liegt, sind die Zahlungen aus dem Programm „Bolsa Família“ sehr niedrig.

Die Zahl der Familien, die Zahlungen über die „Bolsa Família“ erhalten, liegt aktuell bei ca. 14 Millionen, d. h. die jährlich gezahlten Leistungen belaufen sich insgesamt auf knapp 7 Milliarden Euro (26 Milliarden Reais). Vergleichen wir diesen Wert mit der im Volksmund sogenannten „Bolsa Empresário“, dem „Unternehmergeldbeutel“, einer Serie von Subventionen und Steuererleichterungen für Unternehmen in Industrie und industrieller Landwirtschaft, erscheint er lächerlich klein: Den 7 Milliarden Euro pro Jahr, die die PT-Regierung für die Geldbeutel der ärmsten Familien zur Verfügung stellt, stehen ganze 74 Milliarden Euro gegenüber, die jedes Jahr aus den Staatskassen in die Geldbeutel der Unternehmer fließen.

Den Effekt der „Bolsa Família“ auf die brasilianische Ökonomie haben sich alle PT-Regierungen stolz auf die Fahnen geschrieben: Die „Umverteilung“ eines kleinen Teils der staatlichen Ressourcen wird dargestellt als Impulsgeber für Wirtschaftswachstum. Denn, wie „Lula“ selbst sagte, würde durch die Ausgaben der Armen „der Handel wieder florieren, sich die Industrie entwickeln und neue Arbeitsplätze entstehen“. Die Intention liegt auf der Hand: Eine vergleichsweise geringe Konzession an die Arbeiterklasse und die armen Volksschichten, um die brasilianische Wirtschaft nach keynesianischen Vorstellung wieder zum Laufen zu bringen. Im Mittelpunkt dieser Maßnahmen stehen die Interessen der kapitalistischen Wirtschaft, nicht die der Unterdrückten.

Mit diesem limitierten Fokus auf die „künstliche“ Kaufkrafterhöhung der ärmsten Bevölkerungsteile zeigt sich der Charakter der Maßnahme als reine Konjunkturpolitik: Es sind politische Maßnahmen, die darauf abzielen, ein kleines Stückchen vom großen Kuchen des national produzierten Reichtums in Zeiten des Aufschwungs an die Ärmsten der Armen zu verteilen. Mitnichten zielen diese politischen Maßnahmen also durch grundsätzliche ökonomische Veränderungen auf die Schaffung günstiger Bedingungen für die Emanzipation der Arbeiterklasse und der unterdrücken Volksschichten vom kapitalistischen Joch ab. Zwar gab es unter den PT-Regierungen auch Maßnahmen, die einen erweiterten Zugang zur politischen Mitbestimmung ermöglichen sollten, jedoch fielen diese, wie etwa die „Beratung“ der Regierung durch breite Teile der Bevölkerung, insgesamt unbedeutend klein aus.

Die Regierungsprogramme zur Bereitstellung von Krediten für die Bevölkerung demonstrieren höchstens eine andere Facette derselben Politik. Während die „Bolsa Família“ auf die Ärmsten der Armen konzentriert war, begünstigten diese Programme die etwas besser gestellten Teile der Arbeiterklasse und der unterdrückten Volksschichten. Als Beispiel sei hier das Programm „Minha Casa, Minha Vida“ („Mein Haus, mein Leben“) genannt, welches Familien staatliche Unterstützung zusicherte, wenn sie zum Zwecke des Hauskaufs einen Kredit aufnahmen. Abgesehen davon, dass sich so tausende Familien verschuldeten, hatte das Programm noch einen zweiten Effekt: Es begünstigte die Immobilienspekulation, da es Subventionen beim Bau von Häusern versprach.

Kontinuität der Wirtschaftspolitik

Die beschriebenen Maßnahmen der Regierung und die damit zusammenhängenden Ausgaben des Staates waren möglich, solange sich die Preise für die brasilianischen Exportprodukte (insbesondere Rohstoffe und Energieträger) auf dem Weltmarkt auf einem hohen Niveau bewegten. Denn keine der aufeinander folgenden PT-Regierungen strebte Maßnahmen an, die die kapitalistische Produktionsweise grundsätzlich verändern würde, noch wurden die Kapitalmärkte in Brasilien in irgendeiner Weise konsequent eingeschränkt. Das Gegenteil war der Fall: Nachdem die Regierung „Lula“ 2006 die letzte Tranche des IWF-Kredits zurückgezahlt hatte, versprach sie großspurig, sich dennoch weiterhin an die massive Austeritätspolitik zur Aufrechterhaltung des Haushaltsüberschusses zu halten. In diesem Sinn handelte auch die Regierung Rousseff, indem sie bis zuletzt versuchte, Reformen der Arbeitsgesetzgebung, des Rentensystems und des Steuersystems gegen die Interessen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Volksschichten durchzusetzen.

Die Kontinuität der Politik im Interesse der Bourgeoisie durch PT-Regierungen und ihre Vorgänger wird nur durch den sozialen Anstrich verschleiert. Zwei zentrale ökonomische Programme finden sich in der Politik der PT, so lupenrein im Interesse der Bourgeoisie, wie es kaum eine Regierung hätte besser machen können: Die Programme zur „Beschleunigung des Wachstums“ (PAC1 & PAC2). Diese Programme beliefen sich auf ein Volumen von insgesamt knapp 560 Milliarden Euro und dienten in erster Linie zur Finanzierung von infrastrukturellen Großprojekten im Interesse der Unternehmen. Ganz oben auf der Liste der geförderten Projekte sind die verbrecherischen Staudammprojekte im Amazonasgebiet, wie zum Beispiel der Staudamm „Belo Monte“, drittgrößter Staudamm der Welt. Durch diese Projekte sind nicht nur Tausende von Menschen zum Teil ohne Erstattung zwangsumgesiedelt, sondern zusätzlich noch riesige Landstriche eines ökologisch sensiblen Gebiets vollkommen zerstört worden. Das PAC2 wird von Brasilianern auch „PAC da Copa“ (PAC der Weltmeisterschaft) genannt, da es den Baufirmen der gesamten Infrastruktur der Weltmeisterschaft 2014 riesige Gewinne sicherte. Nebenbei wurden durch das PAC2 auch massive Steuererleichterungen für alle teilnehmenden Unternehmen durchgesetzt – allein die FIFA konnte mit einem steuerfreien Gewinn von knapp 3,3 Milliarden rechnen.

Ende einer „Arbeiterregierung“

„Lula“ selbst hat die Essenz der Regierungspolitik der PT erst kürzlich auf den Punkt gebracht: „Sie [die Banker – die Verf.] wissen, dass sie nie so viel Geld verdient haben, wie in der Zeit, als ich Präsident war.“ Doch wie es scheint, waren die immer weiter reichenden Versprechungen der PT der Bourgeoisie am Ende doch nicht genug. Mit dem Einbruch der Rohstoffpreise und der dadurch verursachten Rezession geriet die PT-Regierung in eine politische Krise. Die Bourgeoisie forderte von ihr in Anbetracht der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine schnellere und konsequentere Durchsetzung von Maßnahmen in ihrem Interesse: Rentenreform, Steuerreform, Flexibilisierung der Arbeit und ein „Antiterrorgesetz“ zur Bekämpfung von Unruhen im Inneren. All diese Maßnahmen versuchte die PT-Regierung umzusetzen und riskierte damit den quasi vollständigen Bruch mit ihrer Basis in den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen.

Das Fass war übergelaufen: Tausende Menschen gingen in Brasilien in den letzten Jahren auf die Straße, um gegen die Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Sie übten so Druck auf alle Ebenen der PT aus und verlangsamten die Umsetzung der volksfeindlichen Maßnahmen. Auch große Teile der brasilianischen Mittel- und Oberschicht gingen auf die Straße – jedoch mit der Intention, ihre Privilegien um alles in der Welt zu halten. Denn auch nach 13 Jahren „Arbeiterregierung“, die es nur dem Schein nach war, bleibt Brasilien eins der Länder mit der größten Ungleichheit bei der Vermögensverteilung.

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"Spiel nach den Regeln des Systems", UZ vom 16. Dezember 2016



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