Heiterkeit und Nihilismus in der Spielzeit 2019/20

Theater im ruinierten Paradies

Von Andreas Grimm

Das Theater ist heute ein Luxus isolierter Kultur, das vornehmlich in unterhaltsamen Formen aufmuckt, aber niemandem mehr wehtut. Der Status einer moralischen oder auch unmoralischen Anstalt, die Verhalten zeigen oder verfremden will, ist auch dieses Jahr in den deutschen Spielplänen einem Inseldasein gewichen.

Ob aus Mangel an brauchbaren Dramatikern oder aus einer generellen Einfallslosigkeit heraus, scheinen Romanadaptionen für das Theater gerade Konjunktur zu haben. Dabei bildet die Kompression der Reizüberflutung einen Rahmen sowohl in Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“ als auch in Helene Hegemanns „Bungalow“. Ersteres hat seine Uraufführung am 16. November im Staatstheater Stuttgart und ermüdet mit dem Post-wende-Dauerthema „Sozialdarwinismus im hippen Berlin“. Mit Mitte vierzig will man es nochmal wissen, wechselt von ursprünglich progressiver Grundhaltung zum SUV-Besitzer und sitzt desillusioniert in der Hauptstadt der Reproduktion alter Künstler- und Sponti-Attitüden.

Dass die Klassengesellschaft auch in diesen gefeierten Metropolen der Individualisten alltäglich erfahr- und erlebbar ist, begründet das Thema in „Bungalow“, das am 22. September im Düsseldorfer Schauspielhaus Uraufführung hatte. Regisseur Simon Solberg, dessen Umsetzung von Hegemanns Vorlage eher missglückt ist, baut auf einen „emanzipatorischen Vorgang“, durch den man den bestehenden Verhältnissen entkommen will. In einem minutenlangen Zitieren von Romanausschnitten wird Kritik an der fragmentierten Klassengesellschaft im stillen Einvernehmen mit derselben geübt. Die reine Beschreibung aus einem Fatalismus heraus im Mikrokosmos der Extreme häuft Selbstmorde und Kriegsszenarien aufeinander.

Natürlich wird auch im Theater die Maueröffnung als Kritik verkleidet weggespielt, und zwar dort, wo‘s am meisten wehtut, in Ostdeutschland. Neben Romanen werden nun auch Fernsehserien im Theater inszeniert. Jurek Beckers „Wir sind auch nur ein Volk“ läuft seit einem Jahr im Schauspielhaus Dresden. Hier behauptet eine kleine, alle Klischees bedienende Ossi-Familie innerhalb ihres subalternen Rahmens ihren minimierten Existenzanspruch. Ein Kritiker des Stückes mokiert sich über zu viel Ostal­gie und den Zuspruch von Seiten des Publikums, das quasi seine gewaltsame Entwurzelung doch endlich hinzunehmen habe.

Das Theater Magdeburg affirmiert dieses Jubiläum als Stadtrauminszenierung „Utop 89 … und wer kümmert sich um die Fische?“ Mit festem Schuhwerk und Originalstimmen von damals im Kopfhörer geht es auf Spurensuche nach einem spurlos verschwundenen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen die schlechteste Variante ausgewählt wurde. Da hilft auch keine rückwirkende Spekulation innerhalb der Utopien – was wäre gewesen, wenn gewesen wäre –, die Chance ist verwirkt.

Stattdessen realisiert sich die Dystopie der Diktaturen auf dem Globus, womit Heiner Müllers Macbeth-Bearbeitung am Berliner Ensemble dem Hier und Heute gerecht wird. Mit der durch Morde gewonnenen Position auf dem Königsthron überfordert, entledigt sich Macbeth seiner Reste an Menschlichkeit. In Müllers Theater der Geschichtslosigkeit werden bei Shakespeare noch vorhandene Charakterzüge durch reinen Machterhalt absorbiert. Eine gruselige, monotone Bühnenatmosphäre mit viel Splatter und Theaterblut lässt die Protagonisten als seelenlose Agitatoren erscheinen. Shakespeares für Müller inakzeptables Happy End muss der bleibenden Kontinuität der Barbarei weichen, indem der rechtmäßige König von Schottland am Ende – abseits der Shakespearschen Fassung – ohne erkennbaren Grund seinen treuen Lehnsmann Macduff ermorden lässt. „Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur“?

Müller war es auch, der über Westdeutschland als einer „toten Gesellschaft mit einem toten Gedächtnis“ sprach, und das spiegelt sich in der gegenwärtigen Theaterlandschaft wider. 30 Jahre nach Schließung des Notausgangs Ost windet sich der ökonomisch dominierte Kulturbetrieb im Ringen um Scheinemanzipation. Wirkliche Botschaften hat das Theater nicht, es bleibt beim reinen Darstellen mit Provokationsformen aus der Mottenkiste.

Im Rahmen einer Diskussion im Deutschlandfunk am 2. November machte sich Thea Dorn für die Kunst stark, die alles darf, solange sie im Fiktiven verbleibe und die Finger von der Politik lasse. Diese Kampfansage aus dem Feuilleton an alle Künstler wie Handke, Müller und Fassbinder (der bei Dorn auch sein Fett abbekommt) zeigt deutlich den als bourgeoisen Luxus missverstandenen Kulturbegriff. Mit gleichem Recht könnte man die Meinungsfreiheit in die Psychiatrien verbannen. Diese geistige Korruption erstreckt sich über vielerlei Kunstformen und beweist an sich selbst, in welchem Korsett die Gesellschaft steckt, wenn sie die Politik den Politikern überlässt. Ihr vornehmlich aus der Ökonomie stammender Zweckrationalismus verklebt die Rezeptoren für das Menschsein selbst und für die Ansprüche an Menschlichkeit. Es wäre eine wichtige Aufgabe der Kulturbetriebe, die bürgerliche Gesellschaft ihres Anspruchs auf Ewigkeit zu entheben. Und diese bürgerliche Gesellschaft entstand laut Rousseau mit dem ersten, der ein Stück Land einzäunte.

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Über den Autor

Andreas Grimm (Jahrgang 1972) hat Philosophie und Germanistik studiert und eine zeitlang als Lehrer gearbeitet.

Seit 2016 schreibt er Artikel in der UZ, vornehmlich Kulturkolumnen, und wirkt in der Redaktion der Stuttgart links, der Zeitung der DKP Stuttgart, mit. Aufgrund verschiedener musikalischer, belletristischer und schauspielerischer Tätigkeiten in den letzten 30 Jahren fühlt er sich vor allem dem kulturellen Metier verpflichtet. Zurzeit absolviert er ein Fernstudium in Journalismus.

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"Theater im ruinierten Paradies", UZ vom 8. November 2019



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