Neue Rentendebatte in alten Schläuchen

Und immer grüßt die Demografie

Vorschlag der sogenannten Söder-Rente, Diskussion um eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze: Die Anzeichen für eine erneute Offensive gegen die umlagefinanzierte Altersvorsorge häufen sich.

Die Details dieser Offensive werden gegenwärtig in den sogenannten Think Tanks der herrschenden Klasse noch ausgearbeitet. Eines aber ist so sicher wie das Amen in der Kirche: In ihren Argumentationen wird die Frage der Demografie, der angeblichen Alterung der Gesellschaft, der immer größeren Bürde immer weniger Jüngerer, die für die müßigen Alten schuften müssen, eine zentrale Stelle einnehmen.

Das war schon vor nunmehr knapp zwei Jahrzehnten so, als unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD) die Regel-Altersrente von 65 auf 67 Jahren angehoben wurde. Im Sommer 2003 etwa erklärte Franz Müntefering, damals Vorsitzender der SPD-Bundestagesfraktion auf einer Betriebsrätekonferenz: „Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft verschlafen. Jetzt sind wir aufgewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010! Die Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme zwingend notwendig.“

Der Kern der Argumentation war so eingängig: Würden im Jahre 2000, so hieß es, vier Erwerbstätige auf einen Rentner kommen, würden es, die damalige (wie heutige) Geburtenrate zugrunde gelegt, im Jahre 2050 nur noch zwei sein. Also müsste, um die Überbelastung der Jüngeren zu verhindern, die Lebensarbeitszeit verlängert werden – sonst würde die „demografische Zeitbombe“, die fortan durch alle Medien gereicht wurde, das gesamte Sozialsystem früher oder später in die Luft jagen.

Im Ergebnis des medialen und politischen Trommelfeuers jener Jahre wurden zum einen die Regelrenten abgesenkt, parallel dazu die kapitalmarktfinanzierten Altersvorsorgeprodukte der Versicherungen und Banken steuerlich gefördert und drittens der abschlagsfreie Eintritt in den Ruhestand von 65 auf 67 erhöht.

Völlig korrekt warnte damals die Gewerkschaft ver.di vor den Folgen dieser Maßnahmen: „Schon die bereits in den letzten Jahren beschlossenen Kürzungen des Rentenniveaus werden den Anteil der armen Alten in Zukunft steigen lassen. Gerade Beschäftigte mit niedrigeren Einkommen, die es am nötigsten hätten, können sich zusätzliche private Vorsorge nicht leisten. Für viele von ihnen ist Altersarmut vorprogrammiert.“

Genauso ist es gekommen – und als Therapie gegen diese grassierende Krankheit wird jetzt dieselbe Medizin wie damals empfohlen.

Die Demografiekeule ist damals wie heute falsch, weil sie ein wesentliches Element wirtschaftlicher Entwicklung außer acht lässt: Die wachsende Produktivität menschlicher Tätigkeit. Deutlich ist das, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass schon lange immer weniger Menschen immer mehr Produkte herstellen können: Vor gut hundert Jahren kamen auf eine Person von über 65 Jahren rund zwölf (statt wie im Jahre 2000 rund vier) Erwerbsfähige. Der Trend ist weder neu noch beschleunigt er sich in unseren Tagen. Noch gravierender ist es, wenn wir uns einzelne volkswirtschaftliche Sektoren ansehen: Im 19. Jahrhundert wurden 10 Bauern benötigt, um einen nichtbäuerlichen tätigen Menschen zu versorgen. Im Jahre 1950 aber konnte eine Arbeitskraft in der bundesdeutschen Landwirtschaft bereits 14 andere versorgen, und am Anfang unseres Jahrhunderts war dieses Verhältnis auf 1 zu 88 gestiegen. Kurz und gut: Schon immer hat die Produktivität die Demografie geschlagen – und das wird auch in Zukunft so sein.

Die demografische Entwicklung war zu Zeiten von Müntefering und Schröder kein rationales Argument für eine Verschlechterung der sozialstaatlich organisierten Altersvorsorge, und sie ist es auch zu Zeiten von Angela Merkel und Olaf Scholz nicht. Sie ist lediglich eine demagogische Keule, um diese Art der Alterssicherung weiter auszuhöhlen und den Unternehmen, die gegen Geld das Versprechen auf spätere Geldeinkommen im Alter verkaufen, noch mehr Geschäftsmöglichkeiten zu eröffnen – oftmals zusätzlich mit Steuergeldern gefördert, die den Beziehern kleiner Einkommen per Mehrwertsteuer oder anderen Massensteuern aus der Tasche gezogen werden.

Es ist zu hoffen, dass die Abwehr dieser Offensive im Jahr 2020 besser gelingt, als das 2003 geschehen ist.

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"Und immer grüßt die Demografie", UZ vom 14. Februar 2020



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