Das deutsche Bild von Russland

Verdrehte Tatsachen

Kolumne von Gert Ewen Ungar

Im Gegensatz zu Deutschland wird in Russland der Tag des Endes der Schlacht von Stalingrad feierlich begangen. Es ist ein wichtiger Tag der kollektiven Erinnerung. Noch wichtiger ist natürlich der 9. Mai, der Tag des Kriegsendes. Dieser Tag wird in Russland landesweit gefeiert und ist dem Andenken an die Opfer des Faschismus gewidmet. Auch dieser Tag wird in Deutschland nicht begangen. Ich halte das für einen Fehler. Erinnerung, gerade dann, wenn sie schmerzhaft ist, ist für Individuum wie Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Verdrängung macht krank. Deutschland aber verdrängt.

Das Andenken an das Ende der Schlacht von Stalingrad bekam in diesem Jahr eine noch größere Bedeutung als in anderen Jahren, denn man fühlt sich hier in Russland an dunkelste Zeiten nicht nur erinnert, sondern geradezu in sie zurückversetzt. Das drückte sich in den Feierlichkeiten deutlich aus.

Nicht nur Putin wies darauf hin, es ist ein Thema, das hier breit kommentiert und besprochen wird: Deutschland liefert der Ukraine Panzer. Mit deutschen Panzern werden Soldaten der russischen Armee erschossen, die für sich in Anspruch nehmen, in der Ukraine gegen den Faschismus zu kämpfen.

Man folgt dieser russischen Auffassung in Deutschland nicht, lehnt sie sogar grundsätzlich ab. Für Deutschland, für deutsche Medien und Politik ist die Ukraine ein souveränes Land im demokratischen Aufbruch, das von Russland, einer Autokratie, brutal überfallen wurde, weil Autokratien die Feinde der westlichen, liberalen Freiheiten sind. Man befinde sich in einem Systemkonflikt, ist die Argumentation im Westen.

Das hält einer genaueren Prüfung nicht stand. Mit ihrer repressiven Gesetzgebung, der Einschränkung des Gebrauchs der russischen Sprache, dem Verbot von Medien und Oppositionsparteien, der strengen Zensur und einer Medienaufsicht, die direkt beim Präsidenten angesiedelt ist, ist die Ukraine längst zum Gegenteil dessen geworden, wofür sie nach offizieller westlicher Auffassung angeblich steht.

Ob man das, was in der in Ukraine passiert, Faschismus nennen kann, darüber mag man streiten. Darüber, dass die Entwicklung bedenklich ist, allerdings nicht.

In Deutschland, insbesondere in linksliberalen Kreisen, ignoriert man die innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine und schreibt im Gegenteil Russland zu, faschistisch zu sein. Die Informationen, auf die sich diese These stützt, stammen aus westlichen Kanälen, aus westlichen Medien. Es gebe nur staatliche Medien, wird verbreitet, Opposition und kritische Medien seien in Russland verboten. Auch das hält einer Prüfung nicht stand.

Das zeigt, dem politisch-medialen Establishment ist ein echtes Kunststück der Verdrehung der realen Verhältnisse geglückt. Es ist ihm geglückt vorzugaukeln, es gäbe keine bedenklichen Entwicklungen in der Ukraine, in Russland gäbe es sie dagegen im Übermaß. So gelang es, antifaschistische Kräfte in Deutschland gegen Russland und für die Ukraine zu mobilisieren.

Das konnte nur gelingen, weil es an Austausch mit Russland und an einer gemeinsamen Erinnerungskultur fehlt. Es würde der Resilienz gegen Faschismus dienen, über die – das Beispiel Ukraine macht das deutlich – Deutschland kaum verfügt.

Austausch tut not. Ich wünsche mir mehr Austausch. Als ich in Wolgograd den Mamajewhügel und das Museum der Schlacht von Stalingrad besucht habe, war ich als Deutscher allein. Das hat mich enttäuscht. Ich habe den Mamajewhügel als in Architektur gegossenen Antifaschismus erlebt. Man steigt hinauf, die Mutter-Russland-Statue mit dem erhobenen Schwert immer vor Augen, steigt wieder hinab und wenn man unten angekommen ist, dann ist eins völlig klar: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Vielleicht funktioniert das nicht immer und nicht bei allen. Aber diese Verwechselung, die es aktuell in Deutschland in Bezug auf Russland und die Ukraine und ihr Verhältnis zum Faschismus gibt, die wäre dann in der Form, wie sie sich jetzt zeigt, nicht möglich.

Unser Kolumnist Gert Ewen Ungar ist Journalist, vor Kurzem nach Moskau gezogen und wird von dort regelmäßig für uns berichten.

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"Verdrehte Tatsachen", UZ vom 10. März 2023



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