Vor unseren Augen stirbt das kulturelle Gedächtnis

Von nh

Krieg – seit der Antike, über die Kreuzzüge bis heute – bedeutet nicht nur Tod, sondern auch immer die Zerstörung von Kultur sowie die Plünderung und den Raub von Kulturschätzen – geschützt durch die eigene militärische Macht. Die Zerstörung und der Raub von Kulturgütern hat dabei immer auch das Ziel, Menschen ihrer Geschichte zu berauben, ihnen ihre Identität zu nehmen.

Die deutschen Faschisten raubten zwischen 1939 und 1945 Gemälde, Grafiken, Skulpturen aus ganz Europa. Es ging dabei um weitaus mehr als nur um das wohl für immer verlorene Bernsteinzimmer aus dem Katharinenpalast in Zarskoje Selo bei Leningrad – einst ein Geschenk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Sie ermordeten Künstler, Lehrer, Wissenschaftler. Und sie zerstörten – im Rahmen des Generalplans Ost – auch viele historische Baudenkmale, Universitäten, Schulen, Bibliotheken, Museen, Theater.

Seit über 25 Jahren werden auch in Afghanistan und im Irak zunehmend Stätten der Kultur ausgeraubt und zerstört. Bereits im ersten Golfkrieg 1991 gerieten historische Kleinode wie der 4 000 Jahre alte Tempel von Ur unter Beschuss. Im März 2001 sprengten die Taliban in Afghanistan die Buddha-Statuen von Bamiyan – eines der großen vorislamischen Denkmäler aus dem 6. Jahrhundert. Iraks Nationalmuseum verlor 2003 die Hälfte seiner Schätze, rund 100 000 Ausstellungsstücke wurden geplündert oder wurden zerschlagen.

Der IS zerstörte im Irak antike bzw. altorientalische Stätten: in Mossul, Ninive, Nimrud und Hatra.

Ende März befreite die syrische Armee Palmyra, das im Mai 2015 vom IS erobert worden war. Die einstige antike Oasenstadt, die 1980 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden war, liegt auf dem Gebiet der modernen Stadt Tadmur, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien etwa 51 000 Einwohner hatte.

Nach der Eroberung durch den IS gab es Bilder von brutalen Hinrichtungen in den Ruinen der Stadt. Während der Besatzung sprengten IS-Kämpfer aber auch mehrere bedeutende Kulturdenkmäler: Zwei Tempel, den berühmten Triumphbogen und zahlreiche Grabmäler. Archäologen diskutieren derzeit, ob und wie man die zerstörten Tempel wieder aufbauen könnte.

Unabhängig davon: Der kulturgeschichtliche Verlust ist kaum abschätzbar, wobei Palmyra nur das jüngste Beispiel ist. In „Spiegel-Online“ mahnte Michael Sommer, Professor für Alte Geschichte an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, vor einem Jahr: „Nur, wer um die Bedeutung dieser Orte für lange vergangene Epochen weiß, kann ermessen, was der Welt gerade verloren geht. Zwischen Mittelmeer und Tigris stirbt vor unser aller Augen das kulturelle Gedächtnis der Menschheit.“

„Nimrud, Hatra, Palmyra – Namen, die, im deutschen Geschichtsunterricht wenigstens, keiner mehr nennt, auch kaum jemand kennt. So durfte man selbst in der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung’ vom 18. März 2015 lesen, bei Hatra habe es sich um eine ‚assyrische Stadt’ gehandelt. Aufklärung tut bitter Not, denn hinter jedem der drei Namen verbirgt sich eine Stadt, die einmal Metropole war und Geschichte schrieb.

Nimrud war das politische Gravitationszentrum eines mächtigen Staates (…); Hatra ein Anziehungspunkt für Scharen von Pilgern (…); Palmyra eine Handels- und Wirtschaftsdrehscheibe, so wie heute London oder New York.“

Einerseits behauptet der IS jedes Mal – ähnlich wie die Taliban – es handele sich um Götzen, die vernichtet werden müssen. Dem IS geht es bei seinen Angriffen auf die Kunstschätze des Irak nicht nur um Zerstörung, meinte die Vorsitzende des UNESCO-Welterbekomitees Maria Böhmer bereits vor einem Jahr im „Deutschlandradio Kultur“. Es gebe Raubgrabungen und Plünderungen:

„Damit finanziert sich der IS.“ Sie füllen mit dem Verkauf von Gegenständen auf dem Schwarzmarkt ihre Kriegskasse, so Axel Plathe, Leiter des Unesco-Büros im Irak. Wie hoch aber die Einnahmen des IS – neben dem Handel mit Erdöl und die Zahlung von Schutzgeldern – durch den illegalen Handel mit Kunstschätzen ist, ist nach wie vor unklar.

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"Vor unseren Augen stirbt das kulturelle Gedächtnis", UZ vom 8. April 2016



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