Zu Gesprächen und Geschichten in „Schattensaiten“

Widersprüchliche Erfahrungen

Der Arzt und Schriftsteller Dr. Jörg M. Pönnighaus (geb. 1947) hat, um möglichst viel über den Menschen zu wissen, den er behandelt, Operationen nach 1990 genutzt, um mit seinen Patienten – sie litten unter Hautkrebs – während des Eingriffs zu sprechen. Sie sollten abgelenkt werden und er wollte viel über sie wissen. Das, was herausgekommen ist, lässt sich als „literarische Operationsberichte“ oder „Operationsgespräche“ bezeichnen. Sensationell ist das kaum, aber in ihrer Gesamtheit werden diese Berichte zu einem punktuellen Einblick in die geistige Verfassung vor allem der Deutschen, die durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurden und mit dieser Erfahrung ihr Leben gestalteten. Deshalb bekommt das Buch im Zusammenhang mit dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus eine zusätzliche Bedeutung. Bemerkenswert wurden die Gespräche dadurch, dass der Autor einem Fragemuster folgte, seine Patienten vorwiegend vergleichbare Erlebnisse zu bewältigen hatten, aber unterschiedlich sozialisiert wurden, großteils im sächsischen und im bayrischen Vogtland. Das bedeutete vierzig Jahre lang prinzipielle Unterschiede. Nur wenige wuchsen anders auf wie der 31-Jährige, der dem Tod ins Auge sehen muss, aber eigentlich heiraten wollte. Krieg allerdings kennt auch er, denn er war in Afghanistan eingesetzt. Der Interviewer konnte fast neutral sein: Er brachte 25 Jahre seines Lebens in medizinischen Brennpunkten Afrikas zu und ist heute noch in ähnlichen Einsätzen in Asien unterwegs.

Krieg und Gefangenschaft waren für die meisten seiner Patienten entscheidende Erfahrungen, Zerstörung und Tod waren prägend für manche Kindheit und Jugend. Es sind ganz alltägliche Biografien, die sonst nicht in der Literatur zu finden sind, denn literarisch bestimmende Konflikte wie tragische Liebe oder Märtyrerschicksale – obwohl sich manche so fühlen – spielten keine Rolle. Die Befragten flüchteten sich oft in bekannte Klischees – erstaunlich, wie viel faschistisches Gedankengut sich dabei erhalten hat –, oft in Alltägliches: Man lernte den späteren Ehemann beim Tanzen kennen und man heiratete, weil man schwanger wurde und ähnliches mehr. Die Fragen des Operateurs folgten Schwerpunkten wie Herkunft, Beruf, Krieg, Gefangenschaft, Arbeit, Ehe, Kinder, das Leben in der Gesellschaft und seine Probleme, Glauben, Religion und die Hoffnung auf ein Jenseits, die bei wenigen vorhanden war.

Arbeit war, in verschiedenen Formen, der bestimmende Teil des Lebens; fehlte sie, wurden Leben und Familie trostlos. Für viele wurde die Zeit nach 1989 zur Trostlosigkeit, nachdem sie Hoffnung in die „neue Zeit“ gesetzt hatten. Mit der Arbeit brachen Traditionen weg und fast unbemerkt machte sich landschaftsspezifischer Kulturverlust breit – „Aber diese Webereien gibt es ja jetzt nicht mehr.“ Manche der Patienten bedankten sich für das „gute Gespräch“, sie sahen darin einen Teil des Genesungsprozesses. So entstand ein beeindruckender Querschnitt einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebte, in der Nachkriegszeit in der DDR oder in Bayern sozialisiert wurde. Beiläufig werden erstaunliche Erfahrungen mitgeteilt: Auf Gott vertrauen wenige Menschen; die meisten sind durch lebenslange Erfahrungen so desillusioniert, dass sie an nichts mehr glauben. Neben der Desillusionierung herrscht Verdrängung: Nicht wahrhaben wollte man den eigenen Anteil am Dritten Reich: Viele, die nach 1945 nach Bautzen kamen, waren schuldig, auch wenn sie nur „einen russischen Gefangenen geschlagen“ hatten oder Ortsgruppenführer waren. Wenn dann in der Rückerinnerung von einigen die „braunen Jahre“ als eine gute Zeit gesehen werden – es sind viel zu viele –, wird deutlich, dass alle Zerstörungen, Verbrechen und Schrecken bei manchen nicht geholfen haben, Einsichten zu schaffen. Andere haben „von nichts gewusst“ und können deshalb auch für nichts verantwortlich gemacht werden. Nach 1945 haben „die Russen“ die Falschen verhaftet und „einfach mitgenommen“. Ein anderer, der bis zuletzt an den „Endsieg“ geglaubt hatte, begann sich in der Gefangenschaft „Gedanken zu machen“. „Schrecklich“ und „sinnlos“ seien die Bombenangriffe auf die deutschen Städte gewesen; warum sie geflogen wurden und wer zuerst zerstörte, spielte in den Überlegungen keine Rolle, und so weiter und so fort. Die Deutschen waren nach 1945 ein Volk der Unschuldigen, keiner wollte irgendetwas gewesen sein. Da ist es nicht unbedingt beruhigend, dass andere es „völlig unverständlich“ fanden, dass sie auf den „Schreihals“ – gemeint ist Hitler – „reinfallen konnten“. Denn was machen sie mit den Schreihälsen heute? Deutlich wird, dass diese verbreiteten und alltäglichen Erfahrungen nicht reichten, um vor erneutem Rückfall in faschistisches Denken zu beschützen. Eine wertvolle Einsicht, die das Buch vermittelt.

Der Untertitel „Kleine Geschichten von Leben und Tod im Land der Vögte“ will vorschnelle Verallgemeinerungen einschränken. „Klein“ sind die Geschichten im Vergleich mit gesellschaftlichen Entscheidungen, aber groß sind sie zumeist für die Betroffenen. Alle diese Leben machten in ihrer Vielzahl große Entscheidungen erst möglich. Spezifisches vom Land der Vögte ist wenig zu hören. Einige Besonderheiten sind zu erkennen: Deutlich wirkt der Musikinstrumentenbau in den Arbeitsleben nach. Auch der ungewöhnliche Titel weist darauf hin: Es ist der Klang störender Schattensaiten und nicht der klangvoll-harmonischer Saiten. Aber auch die Wismut-AG hatte einen beachtlichen Stellenwert in den Lebensabläufen und wirkt immer noch gefährlich und geheimnisumweht.

Das Dokumentarische wird im sprachlichen Gestus teils beibehalten, die spröde, fast karge Sprache, in der wenig Empathie spürbar wird, dominiert. Da der Autor den sprachlichen Duktus des Alltäglich-Naiven beizubehalten versuchte, wird vieles vom Bemühen erkennbar, die eigene Geschichte euphemistisch, das heißt mit einer ausgeprägten Verhüllungsstrategie zu bewältigen. Das ist ein menschliches Verhalten. Der Autor, der sich zumeist aller Kommentare enthält, erinnert daran, diese verbreitete Erscheinung immer mitzudenken.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Widersprüchliche Erfahrungen", UZ vom 17. April 2020



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