Vor 30 Jahren fand der Brandanschlag von Solingen statt

Wie das Asylrecht abgeschafft wurde

Der rassistische Brandanschlag von Solingen vor 30 Jahren war ein blutiger Höhepunkt einer Welle von rassistischen Übergriffen, die man mit vier Ortsnamen verbindet: Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen. Doch waren dies nur die spektakulärsten Fälle. In der politischen Bilanz sah es viel dramatischer aus. Zwischen 1991 und 1993 gab es in ganz Deutschland etwa 4.700 neofaschistische und rassistische Anschläge mit mindestens 26 Toten und etwa 1.800 Verletzten, von Alltagsgewalt bis zur brutalen Misshandlung und Brandstiftungen.

Für diese Situation trugen auch die Regierenden Verantwortung. Denn statt sich dem rassistischen Mob mit aller notwendigen Klarheit und mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Sicherheitsorgane entgegenzutreten, ließ man beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen diejenigen Kräfte mehrere Tage gewähren, die glaubten, man könne Menschen in diesem Land das Recht der Existenz bestreiten. Die angegriffenen Migranten schützte die Polizei vor den Übergriffen nicht.

Inge Krämer von der Solinger VVN-BdA erklärte dazu im Rückblick: „Es herrschte ein rassistisch aufgeheiztes Klima. Hetzkampagnen wurden gestartet. Die Bildzeitung titelte: ‚Fast jede Minute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt das Boot?‘. Aber auch die ‚Frankfurter Allgemeine‘ und der ‚Spiegel‘ trugen zur Panikmache gegen Ausländer bei. Edmund Stoiber (CSU) sprach im schönsten Nazideutsch von einer Gefahr der ‚Durchrassung‘ und Durchmischung der deutschen Gesellschaft.“ Die Politiker der Regierungsparteien nahmen diese rassistischen Übergriffe und Unruhen zum Anlass, um die eigenen Pläne zur Einschränkung des Asylrechts im Sinne der Rechtskräfte umzusetzen. Den politischen Schlusspunkt dieser reaktionären Entwicklung setzte am 26. Mai 1993 der sogenannte „Asylkompromiss“, mit dem faktisch das Asylrecht in der Verfassung so eingeschränkt wurde, dass man zu Recht von der Abschaffung gesprochen hat. Während die Politik behauptete, damit „Volkes Willen“ umzusetzen, verstanden die rassistischen Kräfte dies als Bestätigung ihres Handelns. Daher war es nicht überraschend, dass drei Tage später, am 29. Mai 1993, vier junge Männer aus der extremen Rechten den Brandanschlag in Solingen auf das Wohnhaus der Familie Genç verübten, bei dem fünf Familienangehörige getötet wurden: Gürsün Ince (26), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4).

Inge Krämer erinnert sich an die spontanen Reaktionen: „Schon am Nachmittag zog der erste Trauer- und Demonstrationszug durch die Straßen von Solingen.“ Erschreckend war, dass die Medien – nach anfänglich betroffener Berichterstattung – sich vor allem mit dem politischen Streit als Reaktion auf diese Gewalttat beschäftigten. Nationalistische türkische Verbände organisierten in der Stadt und Region Massendemonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen – auch mit antifaschistischen Kräften, die sich solidarisch mit der Familie Genç zeigten.

Zwar gelang es der polizeilichen Ermittlung schon nach wenigen Tagen, vier der Tatbeteiligten zu ermitteln und den Tathergang überzeugend aufzuklären, aber wie in vielen dieser Fälle blieben die Verbindungen zum Verfassungsschutz im Dunkeln. Dessen V-Mann Bernd Schmidt, der mit seiner Kampfsportschule Hak Pao, mitten im Solinger Stadtbezirk Gräfrath gelegen, Neonazistrukturen mit bundesweitem Einfluss und beachtlicher Stärke aufbaute, war nur bei Antifaschisten auf dem Schirm.

Es sind vor allem Antifaschisten, die VVN-BdA und viele Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft, die seit knapp 30 Jahren politische Konsequenzen gezogen haben. So wurde der „Solinger Appell“ gegründet, ein breites Bündnis, das bis heute aktiv ist gegen extreme Rechte und Rassismus. 1994 entstand auf Initiative der Jugendhilfewerkstatt ein Mahnmal, das zu einem beeindruckenden Wall aus persönlichen Bekenntnissen gegen Hass und Gewalt angewachsen ist. Und immer wieder organisiert die VVN-BdA öffentliche Gedenkveranstaltungen, zuletzt zum 25. Jahrestag, unterstützt von den Naturfreunden, dem DGB und ver.di. Schülerinnen und Schüler organisierten während der Unterrichtszeit einen Gedenkmarsch, bei dem Inge Krämer eingeladen war zu sprechen. Sie schloss mit den Worten: „Schweigt nicht zu rassistischen Äußerungen in der Schule, in eurem Freundes- und Bekanntenkreis. Tretet ihnen mutig entgegen, zeigt Zivilcourage! Wenn wir alle zusammenstehen, ihr Jungen und wir Alten, dann passt kein Nazi mehr dazwischen! Diese Botschaft könnte von diesem Platz und unserer Stadt ausgehen.“

Unser Autor ist Bundessprecher der VVN-BdA.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der UZ vom 6. Januar 2023.



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