Tagesseminar der Marx-Engels-Stiftung zur Wohnfrage in Wuppertal

Wohnen wie in Wien

„Fortschrittliche Antworten auf das Wohnproblem im Kapitalismus“ suchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des gleichnamigen Tagesseminars der Marx-Engels-Stiftung am 8. Juni in Wuppertal. Dazu gehörte ein Rundgang auf dem Sedansberg in Wuppertal-Barmen. Dort entstanden in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einige genossenschaftliche und kommunale Bauprojekte für zehntausende Menschen.

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In diesem Haus in der Sedanstraße befand sich einst eine Verteilstelle der Konsumgenossenschaft Vorwärts Befreiung. (Foto: Günter Pohl)

Der Wuppertaler Historiker Reiner Rhefus erläuterte kenntnisreich die verschiedenen öffentlichen Siedlungsprojekte, die heute weitgehend unter Denkmalschutz stehen; darunter diverse hofartig angelegte Schmuckstücke, die – von diversen Bombenschäden abgesehen – weitgehend erhalten geblieben sind. Reiner Rhefus leitet heute auch die Verteilungsstelle Kunst und Geschichte an der zentral durch das Wohnquartier führenden Sedanstraße, in der sich in der damaligen Zeit eine Verteilstelle der Konsumgenossenschaft Vorwärts Befreiung befand. Sie versorgte gemeinsam mit anderen Verteilstellen als genossenschaftliche Selbsthilfe ab 1899 mehr als ein Viertel der Wuppertaler Bevölkerung mit günstigen Lebensmitteln, bis das Projekt von den Faschisten gestoppt wurde. Bis in die Neunzigerjahre gab es dort als Rechtsnachfolger noch einen Coop-Laden. In der Nähe liegt auch die gut erhaltene Genossenschaftszentrale Vorwärts mit Großbäckerei, mehreren Wohnhäusern und einer Kaffeerösterei, die an die Wuppertaler Eisenbahn-Nordtrasse angeschlossen war, die heute ein attraktiver Fahrrad- und Spazierweg durch den gesamten Wuppertaler Nordhang ist. Vor allem im Inflationsjahr 1923 war die Wuppertaler Stadtbevölkerung durch die Konsumgenossenschaft halbwegs gut versorgt, während anderenorts die Not unvorstellbar wurde.

In den Räumlichkeiten der Verteilstelle Vorwärts Befreiung fand dann der zweite Teil des Tagesseminars statt, in dem der Architekt Andreas Hartle aus Hannover die Wohnbauprojekte des „Roten Wien“ vorstellte. Während bei einem Bedarf von elf Millionen Berechtigten in Deutschland heute gerade noch knapp über eine Million Menschen in Sozialwohnungen leben, weil durch ein BGH-Urteil die unbefristete Sozialbindung für unwirksam erklärt wurde, ist in Österreich heute noch das Gros des sozialen Wohnens unbefristet und wächst in Wien weiter. Heute sind noch 23 Prozent der Wohnungen in Gemeindehand. Österreich, so Andreas Hartle, verfolge das Konzept der Objektförderung (den Bau von Sozialwohnungen), Deutschland dagegen die Subjektförderung (die Ausgabe von Wohngeld). Kommunale Häuser bleiben – Wohngeld geht aber direkt an die privaten Vermieter. Hier liegt der Schlüssel der verfehlten deutschen Wohnungspolitik – ein Blick ins Nachbarland zeigt das einfach auf.

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Zehntausende Menschen lebten in Wuppertal einst in genossenschaftlichen und kommunalen Wohnprojekten. (Foto: Günter Pohl)

Das „Rote Wien“ zwischen 1919 und 1934 ist mit der pragmatischen Reformpolitik der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) verbunden, die nach der faschistischen Herrschaft seit 1945 bis heute wieder die Kommunalpolitik Wiens dominiert. Mietzinssteuern und Bodenwertabgaben, die in Wien in der Folge zu mehr kommunalem und weniger privatwirtschaftlichem Wohnungsbau führten, ließen „Wohnpaläste“ entstehen, wie sie von den Austromarxisten genannt wurden. Diesen Ausdruck griff Bertolt Brecht mit Blick auf die Stalin-Allee in Berlin in den Fünfzigerjahren auf. Allein im mehr als einem Kilometer langen Wiener Karl-Marx-Hof wurden 1.382 Wohneinheiten unterschiedlicher Größen und Bedarfe für etwa 5.000 Menschen gebaut. Zwischen 1923 und 1934 durfte der Mietzins nicht mehr als gerade einmal 3,5 Prozent eines Facharbeiterlohns betragen; hinzu kamen nur Instandhaltungskosten. Zwischen 1946 und 1970 baute die Stadt Wien weitere 96.000 Gemeindewohnungen. Heute gibt es mehr als 400.000 dauerhaft sozial gebundene Wohnungen.

Andreas Hartle stellte dem die avantgardistischen, arbeiterunfreundlichen Ideen des Bauhaus in der Gropius-Zeit entgegen. In Deutschland fehlen heute insgesamt 800.000 Wohnungen, was zu immer weiter steigenden Mietpreisen führt. Das „Rote Wien“ sei dagegen „Ergebnis einer starken Arbeiterbewegung für Wohnen, Bildung und Gesundheit“, so Andreas Hartle – mit bis heute währenden Vorteilen für die Menschen, die dort wohnen.

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