Der Volksaufstand in Haiti geht weiter

18 Monate und kein Ende

Lautaro Rivara, People‘s Voice, Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Manfred Idler

Die Krise in Haiti ist die tiefgreifendste und am wenigsten bekannte der in Lateinamerika und der Karibik schwelenden Krisen. Seit Juli 2018 befindet sich das Land im Aufruhr. Dafür gab es drei Auslöser:

Erstens den Versuch der Regierung, in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Internationalen Währungsfonds, die Treibstoffpreise um 51 Prozent zu erhöhen – mit allen Auswirkungen auf Transportkosten, Lebensmittelpreise und die ohnehin hohen Lebenshaltungskosten. Als Reaktion darauf gingen zwischen dem 6. und 8. Juli 2018 etwa 1,5 Millionen Menschen auf die Straße, erzwangen die Rücknahme der Maßnahme und den Rücktritt des damaligen Premierministers Lafontant.

Zweitens die Aufdeckung eines der schwersten Korruptionsskandale in der Geschichte des Landes, bei der der Präsident und seine Partei mindestens 2 Milliarden Dollar aus dem Petrocaribe-Abkommen, nach dem Venezuela einige Karibikstaaten zu Vorzugspreisen mit Erdöl beliefert, unterschlagen haben. Der Betrag entspricht fast einem Viertel des Inlandsprodukts Haitis. Das löste die Proteste von September 2018 bis März 2019 aus.

Zum dritten brachte die Energiekrise, die im September 2019 begann, das Fass zum Überlaufen. Die Regierung glaubte, sie könne die Abschaffung der Subventionierung mit höheren Importkosten rechtfertigen. PetroCaribe konnte Haiti kaum noch beliefern, weil die US-Sanktionen gegen Venezuela Tanker daran hindern. Daneben hatte Haitis Regierung in einem außenpolitischen Schwenk beschlossen, der Regierung Maduro die Anerkennung zu entziehen.

Die Energiekrise, gepaart mit einem explosiven Cocktail aus Inflation, Währungsabwertung und Lohnstopp, verschlechterte für 80 Prozent der Bevölkerung die ohnehin schlechten Lebensbedingungen. Einige der Folgen waren die zeitweise Einstellung des öffentlichen Verkehrs, die Krise der Landwirtschaft, da der Treibstoffmangel die Vermarktung der Erzeugnisse behindert, der daraus resultierende Anstieg der Lebensmittelpreise, die vorübergehende Schließung von Schulen, Störungen im Gesundheitswesen, die Schließung von Fabriken und Kleinbetrieben sowie örtlich Lebensmittelmangel.

Als Antwort darauf gingen die Menschen auf die Straße, um den sofortigen Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse zu fordern, der als verantwortlich galt. Doch schon bald radikalisierten sich die Forderungen und richteten sich gegen das gesamte wirtschaftliche und politische System: „Alles umstürzen“ ist eine der Parolen, die die Forderungen des Volkes zum Ausdruck bringen.

Die erste Strategie der Regierung war Schweigen. Nach einem Monat kamen Aufrufe zum Dialog, die scheiterten. Dann begannen die Repressionen gegen die Demonstranten mit tragischen Folgen: übermäßige Gewalt, Folter, willkürliche Festnahmen, mindestens 77 Tote bisher in diesem Jahr.

Aufgrund der Schwäche der Polizei wurden kriminelle Gruppen gefördert, die den Herrschenden nahestehen. Es kam zu Massakern und der Unterwanderung der Proteste.

Die Reaktion der westlichen Medien war zu erwarten: Schweigen so lange es eben ging und, als die Tiefe der Krise unbestreitbar wurde, ihre Falschdarstellung. Sie leugnen den friedlichen Charakter der meisten Proteste und die Mitverantwortung der „Internationalen Gemeinschaft“. Darüber hinaus mischen sich die USA, die Organisation Amerikanischer Staaten und der IWF ständig ein und unterstützen Moïse immer noch. In den letzten Wochen intervenierten die US-Botschaft und das US-Außenministerium öffentlich, spürbar verärgert durch die Auswirkungen der Krise auf die Profite der transnationalen Konzerne.

Auf der anderen Seite haben sich zwei Oppositionskoalitionen gebildet, vom Patriotischen Forum – das die Straßenmobilisierungen und die sozialen Bewegungen repräsentiert – bis hin zu Konservativen der verschiedenen Fraktionen der einheimischen Bourgeoisie und des reaktionären Kleinbürgertums.

Zwei Lösungen sind möglich: Die USA ermuntern die rechte Opposition zu einem Abkommen mit der Regierung, im Gegenzug gibt es vorgezogene Wahlen und die Möglichkeit von Verfassungsänderungen. Da ein Konsens nicht möglich ist, setzt diese Lösung die Niederlage der Volksbewegung voraus.

Oder eine fortschrittliche Lösung durch den Aufbau einer Nationalversammlung und einer Übergangsregierung, in der organisierte Volkskräfte die Hegemonie der traditionellen politischen Klasse bekämpfen und den Druck von der Straße aufrechterhalten. Bereits vereinbart wurden Prozesse gegen die Verantwortlichen der PetroCaribe-Unterschlagung und der Massaker und eine Reform des Wahlrechts. Um diesen Prozess zu befördern, müssen sich die Volkskräfte schnell organisieren und die Mächte der Region zurückhalten, um einer Volksregierung ein Minimum an Autonomie zu sichern.

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"18 Monate und kein Ende", UZ vom 24. Januar 2020



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