„Europäische Politische Gemeinschaft“ sucht nach einer neuen Ordnung ohne Russland – und schweigt zu Kiews Forderung nach NATO-Präventivschlägen

Alle gegen das „Böse“

Stell dir vor, in Europa wächst die Gefahr eines atomaren Infernos und Vertreter von 44 Staaten des Kontinents kommen zusammen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. So geschehen auf der Prager Burg in der vergangenen Woche, wo eine neue Europäische Politische Gemeinschaft gegründet wurde. Sie besteht aus den 27 EU-Mitgliedern und 17 weiteren Staaten, neben der Ukraine unter anderen die Länder des früheren Jugoslawien sowie die Autokratien Türkei und Aserbaidschan, deren Präsidenten Recep Tayyip Erdog˘an und Ilhan Alijew beim Gruppenfoto ausgerechnet auch noch in die erste Reihe gestellt wurden – ungeachtet ihrer militärischen Angriffe auf ihre Nachbarländer in den vergangenen Monaten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der das neue Gesprächsformat im Mai angestoßen hat, äußerte in der tschechischen Hauptstadt nun hochtrabend die Hoffnung auf ein Zeichen der „Einheit“ – was insofern absurd ist, als der große Europa-Gipfel ausdrücklich die europäischen Staaten Russland und das mit diesem verbündete Belarus ausgeschlossen hat. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Möglichkeit ausführlicher Gespräche mit so vielen europäischen Spitzenpolitikern eine „große Innovation“. „Das ist gut für den Frieden, für die Sicherheitsordnung“, so der SPD-Politiker.

Konkret beschlossen wurde nichts, es ging um die Bilder: alle gegen Putin. Worauf der illustre Gipfel in Prag tatsächlich abzielte, das sagte freimütig der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell: „Dieses Treffen ist eine Möglichkeit, nach einer neuen Ordnung ohne Russland zu suchen. Das bedeutet nicht, dass wir Russland für immer ausschließen wollen, aber dieses Russland, das Russland von Putin, hat keinen Platz.“ Der tschechische Gastgeber und Regierungschef Petr Fiala spitzte zu, es gehe um den Kampf gegen das „Böse“ und schlug den großen Bogen von den sowjetischen Panzern wider den „Prager Frühling“ 1968, mit denen Moskau die Hoffnungen auf mehr Freiheit zunichtegemacht habe, bis zum Krieg heute. „Wir wissen alle in unseren Herzen, dass die Ukraine gewinnen wird, weil die Wahrheit auf ihrer Seite ist“, behauptete Fiala. „Wir müssen weiter standhaft sein – um sicherzustellen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“, sagte die neue britische Premierministerin Liz Truss, deren Amtsvorgänger Boris Johnson im Frühjahr eine Verhandlungslösung zwischen Kiew und Moskau torpediert hatte.

Die Ukraine wurde durch Ministerpräsident Denis Schmygal vertreten. Präsident Wladimir Selenski wurde per Video zugeschaltet, wie gehabt in olivgrünem Militärshirt vor den blau-gelben Ukraine-Fahnen sitzend. Das Treffen nannte er eine Gelegenheit, den Frieden in Europa wiederherzustellen. Der Krieg müsse gewonnen werden, damit Russland nicht auch noch andere Länder angreife. Und so forderte Selenski einmal mehr weitere Waffenhilfen vom Westen. „Der Angreifer muss bestraft werden, und dieser Krieg muss jetzt gewonnen werden – damit die russische Flotte nicht andere Häfen im Schwarzen Meer, im Mittelmeer oder in einem anderen Meer blockieren kann. Damit die russischen Panzer nicht auf Warschau oder Prag vorrücken können“, referierte die deutsche „Bild“ das von Selenski Russland angedichtete große Kriegspanorama.

Bei einem Videoauftritt vor dem Lowy Institute im fernen Australien forderte Selenski am selben Tag noch „Präventivschläge“ der NATO gegen Russland. Die NATO müsse „die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland ausschließen. Wichtig ist aber – ich wende mich wie vor dem 24. Februar deshalb an die Weltgemeinschaft – dass es Präventivschläge sind, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden.“ Selenski betonte weiter: „Nicht umgekehrt: Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: ‚Ach, du kommst mir so, dann bekommst du jetzt von uns.‘“ Der faktische Aufruf aus Kiew zum Beginn eines Dritten Weltkriegs sorgte – so die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ – international für „Irritationen“. Ein Selenski-Sprecher versuchte umgehend, die irrsinnige Forderung wieder einzufangen und behauptete kühn, der Präsident sei falsch verstanden worden. Am Freitag schließlich versuchte Selenski persönlich, seinen NATO-Kriegsruf zu entschärfen: „Man muss präventive Tritte ausführen, keine Angriffe. Wir sind keine Terroristen, wir greifen kein anderes Territorium an“, sagte er der britischen „BBC“. Nur wenige Stunden später scherzte Selenski freilich über den zerstörerischen Anschlag auf die Kertsch-Brücke, die Russland und die Krim-Halbinsel verbindet. Sein russischer Amtskollege Wladimir Putin machte am Wochenende den ukrainischen Geheimdienst SBU für die schwere Explosion auf der Krim-Brücke verantwortlich. „Es gibt keine Zweifel. Das ist ein Terrorakt, der auf die Zerstörung kritischer ziviler Infrastruktur der Russischen Föderation ausgerichtet war“, so Putin.

Nur bei der Friedensnobelpreisträgerin EU ist klar: Sie macht militärisch weiter, statt diplomatisch zu entspannen. Im Winter sollen bis zu 15.000 Ukrainer in EU-Staaten militärisch trainiert werden. Wie die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf hochrangige EU-Diplomaten berichtet, sollen die beiden Einsatzhauptquartiere in Deutschland und Polen sein.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Alle gegen das „Böse“", UZ vom 14. Oktober 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Tasse.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit