Zu Wilhelm Bartschs neuem Roman „Amerikatz“

Amerikatz – oder doch Armenikatz?

Von Rüdiger Bernhardt

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Wilhelm Bartsch

Amerikatz

Ein abgrundtiefer Fall

Roman. Osburg Verlag, 2015

392 S., 22,- Euro

Wilhelm Bartsch versucht dem Leser in seinem dritten Roman die Lektüre zu erleichtern, um es ihm anschließend schwer zu machen: Vieles ist unterhaltsam, manche Episoden spannend, gut geschrieben alles. Aber wie Bartsch die Details verzahnt – von den Massakern im 19. und 20. Jahrhundert über die sogenannte „Wende“ 1989, die zur politischen Enttäuschung für den Erzähler Micah wurde, bis zur Beteiligung der Literatur am politischen Geschehen, allen voran Ossip Mandelstam, und das alles bis in die Gegenwart vor dem schwer zugänglichen Hintergrund der Geheimdienste, besonders der NSA – das fordert den Leser bis zuletzt.

Um ihm bei der Orientierung zu helfen, schickte Bartsch seinen neuen Roman mit mehreren Begleittexten auf die Reise, die ernst zu nehmen sind. Der Leser wird auf Handlung und Ablauf eingestimmt: Ein Zitat von Karl May, der im Roman mehrfach genannt wird, weist auf Abenteuer hin, aber auch auf die May bewegende Vernichtung der Indianer. Eine umfangreiche Liste von Figuren erleichtert es einerseits dem Leser, sich in der Handlungsfülle zurechtzufinden, ist aber andererseits auch Hinweis auf den Inhalt: Detektiv, Stasigeneral a. D., „Geheimdienstler, vermutlich von der NSA“, armenischer Geheimtaxifahrer u. a. weisen auf Geheimdienste weltweit in ihrer Verzahnung und ihrer Gegenwärtigkeit hin. – Die Mottos, die den ersten Teil Geistergeschichten eröffnen, sind eine Hilfestellung, der verschlungenen Handlung zu folgen: Sie spielt sich in unzugänglichen Regionen ab, alles, was geschieht, ist miteinander verbunden, was anfangs nicht zu vermuten ist, alles bedingt einander – „ungeheure Haufen alter Ende, die drehe zusammen“ (Novalis) – und gefährdet den, der nicht versucht zu verstehen, was als politisches Geschehen um ihn herum schillert. Am Ende des Roman folgt eine Liste mit Danksagungen; es ist die Personenliste eines Welttheaters, wirkliche und fiktive Namen vereinigend, längst Gestorbene neben Gegenwärtigen nennend, Karl May ist wieder dabei, der „Lieblingslügenbold“ und Phantast wird zu einem Vorbild für den Erzähler Micah, ein anderer ist Edgar Allan Poe, aber auch Byron, alle überragt Ossip Mandelstam und sein „ungeheuerlichstes und verstörendstes Gedicht“ „Kutscher“. Titel – der Künstlername einer Künstlerin indianischer Abstammung Amerikatz – und Untertitel – der vieldeutige „abgrundtiefe Fall“ – weisen auf die Kunstform Land-Art hin, die das geografische Terrain zur Kunst werden lässt und mit Schockeffekten arbeitet.

Amerikatz klingt in „für die Katz“ nach, aber auch in Armenien und Amerika; der Roman hätte auch Armenikatz heißen können. Beides sind Hauptlandschaften des Romans, es sind aber auch Orte der historischen Verbrechen: der Völkermord der weißen Siedler an den Indianern geht ebenso in die Handlung ein wie der türkische Völkermord an den Armeniern 1915. Die Massaker bilden den historischen Hintergrund, auf dem sich eine atemberaubende Handlung um Geheimdienste, Verbrechen und Verrat vollzieht. Den roten Faden hält der Detektiv Micah Macrobius, der einen armenischen Großvater hat, in der Hand, meist aber nicht, denn das, was er planvoll sucht – „Vermisste in den USA“ – entzieht sich ihm fortwährend; immer sind andere ihm Schritte voraus, schieben sich andere Fälle dazwischen, werden die Vorgänge unverständlich und hängen doch ursächlich zusammen. Im konkreten Fall sucht er weltweit den schwer erkrankten Dichter Jan Untied; sein Vater Boris Untied, ein ehemaliger General der Staatssicherheit, ist ein „Vater voller Kummer“, denn er weiß den Sohn in Gefahr, er musste in den USA verschwinden „wegen der CIA“ oder „wegen dem Heimatschutzgesetz“. Verglichen mit dem, was Micah auf seiner Suche in den USA und Berg Karabach erlebt, war dieser General ein kleiner Fisch im Haifischbecken, Haifische sind unabhängig von jeder Macht gefragt. Micah bringt es auf den Punkt: „… Haifische sind Fachleute und werden gerade heute anscheinend dringender gebraucht als Suppenfische.“

Der Name Untied lädt zum geistigen Spiel ein: „untied“ bedeutet im Englischen „aufgeschlossen“, „aufgeschnürt“, „offen“, aber es liegt auch Zeitlosigkeit/Unzeit nahe (Untid) u. a. Nur wenn der Leser das Spiel mit der Vieldeutigkeit von Begriffen annimmt, wird er dem verwirrenden Geschehen folgen können: „Charlottenburg“, wo Micah sein Detektivbüro hat, wird schnell einmal zu „Charlatanburg“ und in einer „Welt der Lüge und Täuschung“ kann man auch mit aller Wahrheit der „Überwachung“ nicht entkommen beziehungsweise es wäre „eine weitere, noch höhere Form der Täuschung“. Noch ein Spiel stellt ein Fahrstuhl dar, der „eigensinnigste Fahrstuhl auf Erden“, der Micah nicht kausal nacheinander, sondern synchron miteinander durch die Ereignisse führt: In ihm sind auch schon andere gefahren, Karl May zum Beispiel. Der Roman wird zu einem Spiel mit Elementen der Weltliteratur, mit Mythen, Religionen und Sensationen; auch der Fahrstuhl ist ein solches literarisches Element von Heinrich Böll bis zu Frank Schätzing.

Armenien und Amerika gehen im Titel eine innige Beziehung ein, Amerikatz. Sie weisen auf das globale Geschehen des Romans hin, der zwischen den Polen Ost und West spielt, die gleichbedeutend sind mit immer vollkommenerer Überwachung der Menschen, in der die Individualität verloren geht. So wird die Suche nach Jan Untied auch nicht wirklich beendet, obwohl er tot zu sein scheint. Vielleicht lebt er im Erzähler weiter? Der fühlt sich am Ende dreifach: „den hier in Charlottenburg, in Nagorny Karabach und den in Amerika“. Oder wäre gar ein Vierter hinzuzufügen, „ein Geist, eine Art Doppelgänger“?

Wilhelm Bartschs Stärke ist ein Erzählfluss, der scheinbar ufer- und grenzenlos ist und den Leser verführt, die traditionelle Romanfabel aus dem Blick zu verlieren und sich Details zu widmen. Statt einer chronologischen Abfolge entstehen durch die Fabulierfreude des Autors mosaikartige Bilder, die Einblicke in Zeitgeschichte bieten, das Detail wird der Baustein eines anspruchsvollen Geschichtspanoramas. Der Roman fordert einen historisch erfahrenen Leser, der den nicht marktkonformen Roman annimmt und der bereit ist, Geschichte zu erlernen und aus Geschichte lernen zu wollen, und der dumpfe Parolen wie die von der Überfremdung nicht nur ablehnt, sondern sie auch historisch zu widerlegen bereit ist, sofern geistige Brandstifter für Argumente aufgeschlossen sind.

Wilhelm Bartsch hat seinem Roman ein zweites Buch wie einen „Kommentar“ nachgeschickt, auf den er im Roman bereits hinweist, wenn er die „zwölf Genozidgedichte des 1915 in Istanbul zu Tode gequälten Armeniers Siamanto“ nennt Er hat diesen Zyklus Siamantos (1878–1915) übersetzt, „Blutige Briefe einer Freundin“. Es sind die Erinnerungen einer Deutschen an Sterben, an Verbrechen an den Armeniern, aber auch an Standhaftigkeit. Es sind Texte, die zum historischen Bewusstsein der Armenier gehören und es sind Texte von heute, geschrieben gegen die Massaker im Irak, Syrien, Afghanistan, die summierende Reihe ließe sich mühelos fortsetzen und ergänzen durch die Feststellung: Massaker, die ausgelöst wurden durch Kriege der USA und ihrer Vasallen. Dass der Erzähler bei seiner Suche in der Welt mit den sogenannten westlichen Demokratien nicht viel anzufangen wusste und auch der „sogenannte arabische Frühling“ etwas anderes erbrachte als verkündet worden war, führt er auf die Defizite der „Reichen und Mächtigen“ zurück, bei denen es mit „den Werten“ hapert, „da sie so viele Werte, nämlich Geldwerte verkörpern und am Fließen halten“. Das allerdings ist kein Humor des Erzählers, sondern der Zynismus des enttäuschten Erzählers, der hier seinem Schöpfer, dem Autor, sehr ähnlich wird.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Amerikatz – oder doch Armenikatz?", UZ vom 15. Januar 2016



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