Über die Misere bei der Bahn

Auf Verschleiß gefahren

In Kurzform gibt es fünf direkte Gründe für die aktuelle Krise der Deutschen Bahn und eine tief liegende Ursache.

Erstens: falscher Schwerpunkt Fernverkehr. Das System Schiene wird in der Öffentlichkeit so gut wie immer falsch wahrgenommen, als gehe es dabei überwiegend um Verkehre mit ICE und IC/EC-Zügen. Tatsächlich entfallen 92 Prozent aller Fahrten (= „Verkehrsaufkommen“) und 55 Prozent aller gefahrenen Kilometer (= Verkehrsleistung) auf den Nahverkehr – auf Schienenverkehr mit S-Bahn, Regionalbahn (RB) und Regionalexpress. Für die Bevölkerung ist das Aufkommen, der Alltag im Schienenverkehr entscheidend. Für die Bahn-Oberen und die Bundespolitik ist es der Fernverkehr – gerade auch bei den Investitionen.

Zweitens: falscher Schwerpunkt bei Beton-Großprojekten. Daraus resultiert, dass sich die Investitionen und die wesentlichen Projekte des DB-Konzerns im Bereich Schiene auf Hochgeschwindigkeit und große Betonprojekte konzentrieren. Die Ursünde ist bei dem Megaprojekt Stuttgart 21. Andere Projekte wie der Fernbahntunnel in Frankfurt und alte und neue Hochgeschwindigkeitsstrecken gehören dazu. Die viel gefeierten Hochgeschwindigkeitsstrecken erweisen sich als hochproblematisch – dies hinsichtlich der CO2-Emissionen beim Bau, der Energiebilanz im Betrieb und dem Ausbleiben von echten Verlagerungen auf die Schiene. Exemplarisch dafür ist die Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin – München. Sie hat nicht zu einer Verlagerung von Flugverkehr beigetragen. Sie hat vor allem neuen Verkehr generiert. Die Netzwirkung der Strecke ist negativ.

Drittens: Kapazitätsabbau und Fahren auf Verschleiß. Die Schienenkapazitäten wurden quantitativ (minus 20 Prozent bei der Betriebslänge) und vor allem qualitativ (unter anderem minus 50 Prozent bei den Weichen) reduziert – ein Prozess, der von Jahr zu Jahr fortgesetzt wird (2022 wurden 465 Weichen dem Netz entnommen). Neue Gelder für die Schiene fließen so überwiegend in falsche Projekte; es ist ein Fass ohne Boden.

Viertens: 29 Jahre lang Desintegration, Privatisierung und Global-Player-Entwicklung. Seit der Bildung der Aktiengesellschaft Deutsche Bahn AG 1994 erleben wir eine systematische Desintegration des Systems Schiene. Im Schienenpersonennahverkehr und im Schienengüterverkehr werden inzwischen rund 50 Prozent der Verkehrsleistung von Nicht-DB-AG-Gesellschaften gefahren. Mit „gesundem Wettbewerb“ hat das bei einem System, in das Jahr für Jahr 15 Milliarden Euro öffentliche Gelder fließen, nichts zu tun. Auch beim DB-Konzern wird der Zusammenhalt der unterschiedlichen Gesellschaften im operativen Bereich immer brüchiger. Parallel entwickelt sich die DB zum Global Player; 2022 entfielen 56 Prozent des Umsatzes auf das Ausland; rund ebenso viel auf Nicht-Bahn-Geschäfte.

Fünftens: das fatale Projekt „Generalsanierung“. Im September 2022 wurde ein neues großes Vorhaben aus der Taufe gehoben, das die zerstörerische Tendenz im Bereich Schiene nochmals verstärken muss. Als Allheilmittel in Sachen Infrastruktur wird eine „Generalsanierung“ gepriesen, bei der im Zeitraum 2024 bis 2030 in jedem Jahr ein „Korridor“ im Schienennetz für fünf bis sechs Monate komplett gesperrt und alle Bestandteile der Infrastruktur erneuert werden. Das traditionelle Sanieren und Instandhalten „unterm rollenden Rad“, bei laufendem Betrieb, wird aufgegeben. Der renommierte langjährige Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), Benedikt Weibel, der eher für Zurückhaltung bekannt ist, sagte im März 2023: „Diese Korridor-Sanierungen sind schlicht selbstmörderisch.“

Der entscheidende Grund für die Fehlentwicklung wurde vom bereits zitierten Ex-SBB-Chef Weibel offen angesprochen. Auf die Frage „Ist Deutschland am Ende einfach Autoland?“ antwortete dieser: „Natürlich! Gerade im Vergleich zur Schweiz. Wir sind ein Bahnland … Und wir haben keine Autoindustrie.“ Die drei Bahnchefs, die den heutigen Konzern DB prägten, Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube, waren zuvor Daimler-Vorstandsmitglieder. Und das ist nur eine von zahlreichen Verflechtungen, die das System Schiene zu zerstören drohen.

Unser Autor ist einer der Sprecher von Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene

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"Auf Verschleiß gefahren", UZ vom 28. April 2023



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