Versuche von NSDAP und SA, in Arbeitervierteln zu punkten, detailliert nachgezeichnet

Blieb Berlin-Friedrichshain rot?

2017 schockte die AfD mit dem Wahlkampf-Slogan „Thälmann würde AfD wählen“. Sie tat dies, um Linke zu verunsichern und im Osten Stimmen zu fischen, vor allem aber, um den Eindruck zu erwecken, sie setze sich in Wahrheit für die Interessen der Arbeiter ein. Aber dieser demagogische Trick konnte nur funktionieren, weil bereits Jahrzehnte vor der AfD von bürgerlicher Seite recht erfolgreich an der Legende gestrickt wurde, „Rot“ und „Braun“ seien doch irgendwie wesensgleich.

Tatsächlich bildeten Arbeiterbezirke, Hochburgen der SPD und KPD, stets die größte Herausforderung für die Faschisten beim proklamierten „Kampf um die Straße“. Der Berliner Historiker Oliver Reschke hat nun mit der aktualisierten Zweitauflage seines bereits 2004 erschienenen Bandes über die NSDAP und SA im traditionellen Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain eine beeindruckende Lokalstudie vorgelegt, die besonders Berlin-Interessierte fesseln dürfte. Wem die Romane Volker Kutschers und die darauf basierende Fernsehserie „Babylon Berlin“ zu lasch sind, dem bietet das Buch mit genauen Ortsangaben sowie einer detaillierten Stadtbezirkskarte den wissenschaftlichen Zugang. KPD-Kneipen, Verkehrslokale, „Sturmlokale“ und SA-Kasernen, Massenveranstaltungen und Saalschlachten – mittels Auswertung zum Beispiel der Terminspalten im NSDAP-Blatt „Angriff“ schildert der Autor chronologisch das systematische Eindringen der SA in die rote Hochburg Friedrichshain, das 1925 begann und 1929/1930 durch die Etablierung zahlreicher „Sturmlokale“ erste Erfolge zeigte.

Seit Joseph Goebbels aus internen Machtkämpfen der NSDAP als Sieger hervorgegangen war, setzte er auf die Provokation gewalttätiger Auseinandersetzungen. Die Berichterstattung der bürgerlichen Medien war garantiert. Durch Gewaltorgien („Wir prügeln uns groß“) und regelmäßige Massenveranstaltungen inszenierten sich die Faschisten als „Retter“ der bürgerlichen Welt vor dem Bolschewismus. Anhand der Themen wird deutlich, dass die Nazis schon damals keinerlei sachliche Argumentation lieferten, sondern durch Demagogie und Antisemitismus eher Verwirrung in die roten Reihen zu tragen versuchten oder Skandale propagandistisch nutzen wollten. Entsprechend stellt sich auch die Sozialstruktur der NSDAP/SA dar: die Berliner SA bestand in den Führungsebenen ausschließlich aus Angehörigen der Oberklassen.

Alle Parallelen zu heute werden im Buch nicht benannt, drängen sich jedoch geradezu auf: Das „Durchprügeln“ sogenannter national befreiter Zonen, wozu faschistische Kader organisiert zusammen in ein Dorf oder einen bestimmten Stadtteil ziehen, wie auch die strategisch ausgeübte extreme Gewalt, zum Beispiel bei Überfällen auf Flüchtlingsunterkünfte durch aus der gesamten Republik zusammengekarrte Stiefelnazis, worüber die Medien anschließend ausführlich berichten. Faschistische Provokationen wie von der Kleinpartei „Die Rechte“, die in Dortmund Anfragen zur Erfassung jüdischer Mitbürger stellt, „Gas-geben“-Plakate der NPD in Berlin oder die AfD mit ständigen „Tabubrüchen“ bundesweit sind ebenso bereits bei der NSDAP der 1920er Jahre Standard. Das alles sollte nicht verwundern.

„Vordringen“ und „Festsetzen“: Die Faschisten kamen von „Außen“ in die roten Hochburgen, was viel personeller, materieller und logistischer Ressourcen bedurfte. Ihre dritte „Kampfaufgabe“, das „Endringen in das links-proletarische Milieu“, konnten sie allerdings nicht erreichen. Einbrüche in die Arbeiterschaft gelangen den Nationalsozialisten nur in deren Randbereichen. Die Wahlergebnisse der NSDAP in Friedrichshain blieben immer weit unter dem Gesamtberliner Durchschnitt. Kein Geringerer als der spätere Reichskommissar für Inneres, Wilhelm Frick, wusste schon 1932: „Die Masse der Arbeiter werden wir zweifellos erst gewinnen, wenn wir an der Macht sind.“ Man blieb trotz spektakulärer Wahlergebnisse im Zuge der Weltwirtschaftskrise Mittelstands- und bürgerliche Protestpartei.

Dr. Oliver Reschke:
Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichshain 1925 – 1933,
trafo Wissenschaftsverlag Berlin, 2020, 2. erweiterte Aufl., 395 S., zahlr. Fotos u. Abb., 39,80 Euro.

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"Blieb Berlin-Friedrichshain rot?", UZ vom 30. Oktober 2020



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