Spätfolgen eines Gründungsmakels

Das Aiwanger-Syndrom

Kolumne

Der Ekel schnürt einem die Kehle zu: „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“, „Kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil“, „Eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller, dann ab nach Dachau“ … Ein Flugblatt mit solchen „Preisauslobungen“ hatte der Schüler Hubert Aiwanger in seiner Mappe. Der heutige Freie-Wähler-Chef und bayerische Vizeministerpräsident, mit diesem Vorwurf konfrontiert, sprach angesichts der bevorstehenden Landtagswahl von einer „Schmutzkampagne“ und schloss seinen Rücktritt aus. Schließlich war Bruder Helmut als Verfasser des Pamphlets ausgemacht, während Hubert die „Jugendsünde“ soeben bereute und versicherte, dass er „seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund“ gewesen sei. Ministerpräsident Söder, der den benötigten Koalitionspartner auf dem Schleuderbrett sah, legte seinem Vize zum Zeitgewinn einen Fragebogen ins Beichtgestühl und begründete sein anschließendes Festhalten an ihm mit Augenmaß. Schließlich sei in den 35 Jahren seither „nichts Vergleichbares“ in Aiwangers Vita vorgefallen. Da muss Bavaria aber aufgeatmet haben! In die Entrüstung einer konsequent antifaschistisch eingestellten Öffentlichkeit über die Causa selbst mischt sich nun Entsetzen, dass die Partei des so mäßig Abgewatschten plötzlich deutlich höhere Umfragewerte erhält. Der düpierte Söder tut das als „Fieberkurven aus Solidarität“ ab. Er wird nicht bedacht haben, dass Fieberkurven Krankheit signalisieren.

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Das Aiwanger-Syndrom - Hubert Aiwanger - Positionen
Hartmut König

Die Art, in der die Vorgänge um die bayrische „Flugblattaffäre“ abgewiegelt werden, zeigt über das Lokale hinaus das aktuelle Symptom einer verschleppten, nie ausgeheilten, zu graduellen Rückfällen neigenden Malaise bundesdeutscher Geschichte. Diese chronisch gewordene Krankheit – halbherziger bis verlogener Antifaschismus – war schon als Gründungsmakel der BRD zu beklagen und zieht sich mit Spätfolgen bis ins Heute. Jenseits der „Nürnberger Prozesse“ unterblieb einst der einschneidende Bruch mit den braunen Eliten aus Politik und Wirtschaft, Banken und Presse, Geheimdiensten und Heer. Nachfolgeriegen mit ihrer geistigen Welt wurde der Zugang zur bundesdeutschen Parlaments- und Debattenkultur ermöglicht. Der Verfolgungsfleiß, den das unselige KPD-Verbot auslöste, verebbte hier mit Bedacht. Und die Geschichtsaufarbeitung duldet noch immer fatale Radierungen. Dass Hitler durch das große Kapital an die Macht gehoben wurde oder dass bedeutende deutsche Geldvermögen der Jetzt-Zeit aus östlicher Sklavenarbeit herrühren, liest man in keinem Schulbuch. Dafür sind Gaulands „Fliegenschiss“-Vergleiche und Höckes profaschistische Pöbeleien zu ertragen, während wir mit größter Sorge hören, wie die CDU über eine punktuelle Zusammenarbeit mit der AfD streitet. Denn lauter wird auf Marktplätzen der Verdrängung wieder „Schluss mit der Schraubzwinge historischer Schuld“ gerufen. Ergo: Aiwangers flugblättrige „Jugendsünden“ in den Reißwolf des Vergessens? Ins Vergessen sowieso nicht. Verzeihen?

Man muss verzeihen können, aber das setzt Katharsis voraus. Das widerliche Flugblatt wurde 1988 in der Schultasche eines Gymnasiasten gefunden. In dem Alter und zu jener Zeit darf eine versäumte Chance unterstellt werden, sich gegen von wem auch immer zugeraunte nazistische und antisemitische Parolen geistig gewappnet zu haben. Ehrfurcht vor den Toten von Auschwitz und Dachau, vor den Opfern des Holocausts und des Widerstands gegen die Hitler-Barbarei sollten einem angehenden Abiturienten der Nachkriegsgeneration abverlangt werden. Nach dem Sakrileg wäre ein erkennbares Umdenken und Bedauern ethische Pflicht gewesen, ehe die Süddeutsche Zeitung in der Vergangenheit grub. Heute ist Aiwangers Widerrede der empathielose Versuch, die Schimäre einer politischen Hexenjagd in Wählervoten umzumünzen. Und sein Vorbehalt, gegen die „Verdachtsberichterstattung“ der Presse juristisch vorzugehen, setzt eher auf Zurückschlagen denn auf moralisch gebotene Demut. Der Politiker an sich ist mir schnuppe. Das Aiwanger-Syndrom nicht. Es frisst an dem fragilen antifaschistischen Selbstschutz der Gesellschaft.

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"Das Aiwanger-Syndrom", UZ vom 6. Oktober 2023



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