Gino Vermicellis Partisanenroman „Die unsichtbaren Dörfer“

Dein Kommandant ist einer wie du

Ossolatal, Italien, März 1944. Simon ist aus Frankreich nach Italien zurückgekehrt, um mit den Partisanen in die Berge zu gehen. Es folgen sechs turbulente Monate in den Bergen, die der Autor Gino Vermicelli fast 40 Jahre nach dem Sieg über die Faschisten erstmals aufschrieb.

Mit Simon, dem Kommunisten und Politkommisar seiner Partisanengruppe, hat sich Vermicelli ein Alter Ego geschaffen, mit „Die unsichtbaren Dörfer“ den Partisanen eine Stimme gegeben, die ihre Geschichte nicht selbst erzählen konnten. Dank dem Rotpunkt-Verlag kann man sie nun wieder auf Deutsch lesen.

Zunächst am eindringlichsten scheint ein Gefühl unglaublicher körperlicher Anstrengung: Rauf auf die Berge, runter von den Bergen, Ausrüstung schleppen und irgendwie versuchen, zu einem Ort zu kommen, an dem eine Versorgung mit Nahrung möglich ist – all dies scheint zunächst stärker als der tatsächliche Kampf gegen die faschistischen Truppen. Auch stärker scheint das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Solidarität. Das unter den Partisanen, aber auch die der Bevölkerung, die ihren Kampf unterstützt. In einfacher, klarer Sprache verhandelt Vermicelli dabei die großen Themen des Lebens, etwa wenn er seinen Politkommissar Simon einen alten Mann fragen lässt, wie die Dorfbewohner es aufnehmen werden, wenn das passiert, was halt passiert, als die ersten jungen Frauen die Versorgung der Partisanen übernehmen und man sich näher kennen lernt. Der Alte windet sich – über so was spricht man nicht – und findet aber doch eine Möglichkeit, Simon mitzuteilen, dass die Dorfbewohner akzeptieren, wie das Leben so spielt, auch für ihre Töchter. Bald schließen sich die ersten Frauen komplett den Partisanen an. Vermicelli erzählt auch eine Geschichte der Gleichberechtigung.

Und er erzählt eine Geschichte von Mut und Moral in finsteren Zeiten, geradezu nebenher, denn diskutiert wird bei den Partisanen beim Gehen oder in den kurzen Verschnaufpausen vor dem nächsten steilen Abschnitt des Weges: „Dann sagte Simon, ohne jemanden direkt anzusprechen, den Blick ins Tal gerichtet: ‚Wenn man sagt, Krieg ist Krieg, meint man damit oft, dass im Krieg alles erlaubt sei. Wenn dem so wäre, glaube ich nicht, dass wir vier alle hier säßen.‘ ‚Sicher nicht …‘, flüsterte Nella. ‚Auch im Krieg muss es eine Moral, eine Ethik geben.‘ ‚Nur schade, dass die da unten es nicht wissen …‘ Emilio deutete auf die im Tal.“ Die drei kommen zu dem Schluss, dass keinerlei Folter durch Partisanen geduldet werden kann: „,Glaubst du denn nicht, dass der Hauptgrund für das Unrecht die Ungleichheit ist? Schau dir unsere Burschen an! Sie sind besser als die anderen, die Schwarzen, das ist sicher. Und je länger sie hier oben leben, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie sich für Gemeinheiten hergeben. Was hat sie verändert? Deine Reden, meine Reden? Sicher nicht, wir halten ja keine. Sie haben sich verändert, weil sie ein anderes Leben führen.‘“

Dieses andere Leben in den Bergen hätte der Grundstein für ein anderes Italien sein können, die Realität sah anders aus. Anders als Italo Calvino mit „Wo Spinnen ihre Nester bauen“ und Beppe Fenoglio mit „Eine Privatsache“ hat Gino Vermicelli, selber Kommunist und Mitbegründer der (leider nicht nur finanziell vor die Hunde gegangenen) Zeitung „Il Manifesto“, mit dem stets politisch denkenden Kommunisten Simon die Politik in den Mittelpunkt seiner Erzählung gestellt. Er romantisiert die Resistenza nicht zu einer „schönen Zeit“, er übt Kritik an einigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Partisanengruppen und auch an der Art und Weise der Gründung der Partisanenrepublik Ossola.

Und bleibt dabei doch stets liebevoll den Partisanen und Patrioten gegenüber, schreibt von Sorgen und Nöten, Krankheiten, der Dankbarkeit für eine Tasse Kaffee oder ein Paar Wollsocken und von dem Glück, das ein Paar Schuhe bedeuteten.

Dabei verlieren Vermicellis Charaktere nie das Ziel aus den Augen und für viele ist das mehr als der bloße Sieg über die Faschisten: „Simon legte den Arm um seine Schulter und gab zur Antwort: ‚Du darfst keine Angst vor einem langen Kampf haben. Jetzt führen wir Krieg, das ist eine scheußliche Sache. Aber wenn der Krieg zu Ende ist, hört der Kampf nicht auf, er wird nur ein anderer: ein Zusammenstoß der verschiedenen Klassen und ihrer Interessen, ein Kampf, an dem jeder aufgefordert ist teilzunehmen, und zwar mit seiner Intelligenz, nicht mit dem Magazin seiner Waffe.‘“

Und er schreibt von einer Gemeinschaft, die zwar Ränge kennt, weil sie militärisch notwendig sind, in der aber trotzdem Gleichheit herrscht. Von den ungeschrieben Geboten, die den Partisanen das Überleben (und den Sieg) sichern sollen (vergeude keine Munition, lass dich niemals einkreisen usw.) ist das zehnte und letzte das entscheidende: „Dein Kommandant ist einer wie du. Wenn er einen Fehler macht, sag es ihm sofort!“

Gino Vermicello hat gesagt, er habe habe das Buch für junge Leute geschrieben, die die Resistenza nicht erlebt haben. „Ich möchte, dass sie die Partisanen nicht als Menschen sehen, die sich von ihnen unterscheiden, sondern als Menschen, die ihnen in ihren Gefühlen und Hoffnungen sehr ähnlich sind.“

„Sie brachen auf, wie Maulesel beladen. Der Kirchturm von Anzola schlug zwei Uhr. Pippo fragte: ‚Welcher Tag ist heute?‘ Dann überlegte er, dass es bereits Morgen war und fügte hinzu: ‚Ich wollte sagen: Welcher Tag war gestern?‘ Für ihn war der gestrige Tag ein Tag zum Erinnern.

Die Geschichtsschreibung hingegen wird sich höchstens erinnern (und nicht einmal das ist sicher), dass in einer Frühlingsnacht des Jahres 1944 die faschistische Garnison in Premosello gesprengt wurde. Aber welches Geschichtsbuch wird sich je an Pippo und Serena erinnern?“

Auch dafür, dass wir uns an sie erinnern, hat Gino Vermicelli dieses Buch geschrieben.


Gino Vermicelli
Die unsichtbaren Dörfer
Rotpunkt Verlag, 418 Seiten, 29 Euro
Erhältlich im UZ-Shop


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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Dein Kommandant ist einer wie du", UZ vom 16. Juni 2023



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