Über die Parteilichkeit von Brechts Lyrik

Der Pflaumenbaum und der Kommunismus

Hans Heinz Holz

Vor 125 Jahren, am 10. Februar 1898, wurde Bertolt Brecht geboren. Der Dichter und Kommunist wurde von den Herrschenden verteufelt, verfolgt und schließlich ins Exil gezwungen. Heute versuchen sie, sein Werk umzuinterpretieren, ihm seine politische Haltung abzusprechen oder sie von seinem Werk zu trennen. Warum das nicht gelingen kann, erklärte Hans Heinz Holz bei der Konferenz „Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist … Brecht und der Kommunismus“ am 14. und 15. Oktober 2006 in Berlin. Aus Anlass von Brechts Geburtstag dokumentieren wir hier Auszüge aus seinem Referat.

In seinen Kommentaren zu Brecht schreibt Walter Benjamin über die innere Bewegung, die sich in seinen Gedichten ausdrückt: „Unter ihren mannigfaltigen Haltungen wird man eine vergebens suchen, das ist die unpolitische, nicht-soziale.“Das ist die Einschätzung eines Autors, der seinen Platz im obersten Rang der Literaturkritik hat. Sie steht gegen alle Versuche, den Dichter Brecht gegen den Kommunisten Brecht auszuspielen, um die Kraft seines Worts ertragen zu können, ohne sich von dem Inhalt betreffen zu lassen, der darin ausgesagt ist.

Aber Brecht widersteht diesem Kastrationsverfahren. Er ist, wie Walther von der Vogelweide, auch da ein politischer Dichter, wo er dem Anschein nach ganz in der subjektiven Färbung lyrischen Gefühlsausdrucks bleibt.

Unter den Svendborger Gedichten, also schon in der Zeit der Emigration, ist eines, dessen Zartheit fast zu Sentimentalität verführen könnte: das Gedicht vom Pflaumenbaum, zu den „Kindergedichten“ gehörig:

Im Hofe steht ein Pflaumenbaum
Der ist klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum
So tritt ihn keiner um.

Der Kleine kann nicht größer wer’n.
Ja größer wer’n, das möcht er gern.
’s ist kein Red davon
Er hat zu wenig Sonn.

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum
Weil er nie eine Pflaume hat.
Doch er ist ein Pflaumenbaum
Man kennt es an dem Blatt.

Sentimentale Rührung wird verwehrt, die Kargheit der Beschreibung konzentriert sich auf eine alltägliche Situation im Hinterhof eines billigen Großstadtviertels. Eingelassen in den Asp haltboden, lichtarm vegetierend im Schatten der hohen Hauswände, eine kümmerliche Anspielung auf eine Natur, für die auf teurem Grund und Boden kein Platz bleibt.

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(Foto: privat)

Geschützt muss er werden durch einen Zaun, damit niemand ihn anrempelt und knickt. Seine Kraft reicht nicht, um Frucht zu tragen. Identifizieren kann man ihn an der Form des Blatts – der Singular des Worts ist Ausdruck tiefer Resignation.

Das alles steht in zwölf Zeilen mit kindlichen Reimen. Abgrundtraurig. Einem Wesen wird versagt, sich zu entwickeln, zu sein, was es seiner Natur nach sein könnte. Vom Menschen ist nicht die Rede. Aber jeder versteht: Es gibt Hinterhofkinder, die nie in Licht und Sonne spielen können. Es gibt Menschen, denen gerade nur das Mindeste zum Überleben gelassen ist und zu denen nicht einmal ein tröstendes Gedicht dringt. Wir aber, die wir Gedichte lesen und das Leben preisen – denn „wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ –, wir werden von dem Gedicht genötigt, etwas wahrzunehmen, wovor wir gern die Augen verschließen möchten. „Wahrlich, ich lebe in finsteren Zeiten“, sagt Brecht „an die Nachgeborenen“, in Zeiten, „wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“.

Brecht kann über Bäume, über einen Pflaumenbaum sprechen und die Untaten einer unmenschlichen Gesellschaft vor unseren Augen aufsteigen lassen, ohne sie plakatieren zu müssen. Aber wir leben in finsteren Zeiten. Wer ein Dichter ist, mag zuweilen durch die Blume sprechen. Doch es reicht nicht, auch für ihn nicht. Weil er die Zärtlichkeit für das Bäumchen fühlt, wird seine Empfindung zur Empörung und seine Liebe zu den Geschundenen wird zum Hass gegen die Schinder:

Dabei wissen wir ja:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser.
Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Der Schrei des Aufbegehrens, die Härte des Klassenkampfs sind schon in der Traurigkeit über den Pflaumenbaum. Nicht erst die Anklage gegen die finsteren Zeiten ist politisch. Zu wissen, dass ein Gespräch über Bäume fast verbrecherisch ist, macht ein Gespräch über Bäume wieder möglich. Und dann ist es ein politisches. Was ein einzelner sah als eine Einzelheit – das Bäumchen im Hinterhof –, sehen nun viele als etwas, das (so oder anders) überall vorkommt und allen zustößt. Was einer sieht, muss er zusammen mit anderen sehen, damit sie es ändern können. „Der einzelne hat zwei Augen. Die Partei hat tausend Augen.“

Wer aber ist die Partei?
Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?
Sind ihre Gedanken geheim,
ihre Entschlüsse unbekannt?
Wer ist sie?
Wir sind sie.
Du und ich und ihr – wir alle.
In deinem Anzug steckt sie, Genosse,
und denkt in deinem Kopf.
Wo ich wohne, ist ihr Haus,
und wo du angegriffen wirst,
da kämpft sie.

Und darum heißt es dann im Refrain eines Kampflieds:

Keiner oder alle. Alles oder nichts.
Einer kann sich da nicht retten.
Gewehre oder Ketten.
Keiner oder alle.
Alles oder nichts.

Wer die Stimme des Zorns und den Aufruf zum Kampf nicht hören will, der hat auch die Verletzlichkeit des Herzens nicht verstanden, die aus Brecht spricht. Der Zynismus der Männer von Mahagonny, der Sarkasmus des verliebten Schweins Malchus – sie kommen aus dem Schmerz über die zerstörte, über die verfehlte Menschlichkeit. Nein, wir können nicht freundlich sein in dieser finsteren Welt – und das beste, was einer wie Brecht tun kann, ist ein Gedicht zu machen, das wie eine offene Wunde ist, die aufweckt, weil sie brennt. „Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.“ Aber machen wir uns keine Illusionen – wie auch Brecht sich keine gemacht hat. Die Stellung der Herrschenden wird nicht durch Gedichte verunsichert, so wenig wie durch philosophische oder gesellschaftswissenschaftliche Theorie. Es bleibt bei der Marxschen Einsicht, dass erst die Theorie, die die Massen ergreift, zur materiellen Gewalt wird. Wir müssen die Wechselwirkung von kommunistischer Einstellung und literarischer Bedeutung richtig begreifen – so wie der Gegner sie richtig begreift, wenn er den Dichter vom Kommunisten absondern will. Nicht weil Brecht Kommunist war, wird die Macht der Herrschenden zum Erzittern gebracht; sie zu erschüttern kann nur die organisierte Macht der Partei leisten. „Der einzelne kann vernichtet werden, aber die Partei kann nicht vernichtet werden“, sagt Brecht im „Lob der Partei“. Wie hilflos ist doch der Autor für sich! Im Traum zu Besuch bei den verbannten Dichtern der Geschichte, bei Po Chü-i und Villon, bei Voltaire und Heine und anderen, hört der seiner selbst gewisse Dichter die Frage:

… Du, wissen sie auch
Deine Verse auswendig?
Und die sie wissen
Werden sie der Verfolgung entrinnen?
Das
Sind die Vergessenen, sagte Dante leise.
Ihnen wurde nicht nur der Körper,
auch die Werke vernichtet. …
Keiner wagte hinüberzublicken.
Der Ankömmling
War erblasst.

Gaukeln wir uns nichts vor: Ohne die Partei sind wir nichts, was als Macht zählt, wenn auch die Partei keine Macht wäre ohne uns, die wir bereit sind zu kämpfen und Opfer zu tragen, ja Opfer zu sein. Dieses Bewusstsein erfüllt die Brechtsche Dichtung – und kein privater Individualismus der Selbsterhaltung, den Brecht immer wieder übte, hat diese seine Einsicht in die Notwendigkeit kollektiver Solidarität und Kampfgemeinschaft getrübt. Er ist selbstbewusst genug, die Partei sagen zu lassen: „Wir können irren, und du kannst recht haben“ – aber er bejaht die Folgerung:

Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg.
Ohne uns ist er
Der falscheste.
Trenne dich nicht von uns.

Das sei allen ins Stammbuch geschrieben, die im Zeichen des bürgerlichen Individualismus, ja seiner postmodernen Übersteigerung, die Organisation verachten. Brecht zeigt uns, wie ein Leninist denken muss, wenn auch vielleicht seine private Egozentrizität dagegen rebelliert.

Für uns ist wichtig, dass Brecht Kommunist war, der sich nicht von uns trennte. Seine Wirkung aber beruht darauf, dass er ein großer Dichter und als solcher ein Kommunist war. Denn als Dichter fasste er menschliches Empfinden in Worte und Bilder, die auch Nicht-Kommunisten verstehen, und als Denker gab er diesen empfundenen Worten und Bildern eine kommunistische Perspektive. Der Pflaumenbaum ist es, der keine Früchte trägt und die Frucht der Erkenntnis hervorbringt. Ohne Belehrung, ohne Erklärung kann Brecht uns das sagen:

Heute, Ostersonntag früh
Ging ein plötzlicher Schneesturm
über die Insel.
Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee.
Mein junger Sohn
Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen
an der Hausmauer
Weg von einer Schrift, wo ich auf jene
mit dem Finger deute
Welche einen Krieg vorbereiten, der
Den Kontinent, diese Insel, mein Volk,
meine Familie und mich
Vertilgen muss. Schweigend
legten wir einen Sack
Über den frierenden Baum.

Der Sack schützt das Lebendige. Was lebendig ist, muss nicht verzagen.
Die Todesstarre des Schnees muss nicht hingenommen werden.

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Wer niedergeschlagen wird,
der erhebe sich!
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat,
wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute
sind die ­Sieger von Morgen
Und aus Niemals wird: Heute noch!

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"Der Pflaumenbaum und der Kommunismus", UZ vom 10. Februar 2023



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