Aus der Rede von Götz Dieckmann

Der Rote Oktober und deutsche Arbeiterklasse

Von Götz Dieckmann

(…) Lenin betonte 1915 – im Lichte seiner Erkenntnisse über die sprunghaftungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium – der Sieg des Sozialismus in wenigen kapitalistischen Ländern „oder sogar in einem einzeln genommenen Land (sei) möglich“. (LW, Bd. 21, S. 345) (…)

Bedeutet das nun, Lenin habe bereits damals gewusst, Sowjetrussland werde sich jahrzehntelang in totaler kapitalistischer Umkreisung behaupten müssen? So verhielt es sich keineswegs!

In seinem „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“ hat er nach dem Ausbruch der russischen Februarrevolution geschrieben: „Dem russischen Proletariat ist die große Ehre zuteil geworden, die Reihe von Revolutionen, die der imperialistische Krieg mit objektiver Unvermeidlichkeit erzeugt, zu beginnen. Vollkommen fern liegt uns aber der Gedanke, das russische Proletariat für das auserwählte Proletariat unter den Arbeitern der anderen Länder zu halten. Wir wissen sehr gut, dass das Proletariat Russlands weniger organisiert, geschult und klassenbewusst ist als die Arbeiter anderer Länder. … In Deutschland brodelt es schon in der proletarischen Masse. … Die Zukunft gehört jener Richtung, die einen Karl Liebknecht hervorgebracht hat, die ‚Spartakusgruppe‘ schuf und die ihre Ansichten in der Bremer ‚Arbeiterpolitik‘ propagiert …Die objektiven Bedingungen des imperialistischen Krieges bieten die Gewähr dafür, dass sich die Revolution nicht auf die erste Etappe der russischen Revolution, dass sie sich nicht auf Russland beschränken wird.

Das deutsche Proletariat ist der treueste, zuverlässigste Verbündete der russischen und der internationalen proletarischen Revolution.“ (Bd. 23, S. 384 und 386)

Die Petrograder Stadtkonferenz der SDAPR(B) vom April 1917 stellte fest: Wenn „in beiden Ländern, in Deutschland wie in Russland, die gesamte Staatsgewalt vollständig und ausschließlich in die Hände der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten übergeht, so wird die ganze Menschheit sofort erleichtert aufatmen, denn dann wird tatsächlich das rascheste Ende des Krieges, der dauerhafteste, wahrhaft demokratische Frieden zwischen allen Völkern und damit auch der Übergang aller Länder zum Sozialismus gesichert sein.“ (Bd. 24, S. 153) Im Mai wandte sich Lenin folgerichtig „gegen Verhandlungen mit den Kapitalisten, wir sind für Verhandlungen und für die Verbrüderung mit den revolutionären Arbeitern und Soldaten aller Länder, wir sind überzeugt, dass … die Arbeiterrevolution in Deutschland beginnt, und diese Revolution wird ein Schlag gegen die Kapitalisten aller Länder sein.“ (Ebenda, S. 190) Das russische Volk habe jetzt die Wahl zwischen der Offensive, also der Verlängerung des imperialistischen Kriegsgemetzels einerseits, oder andererseits dem Programm der revolutionären Arbeiter der ganzen Welt, das in Russland von der bolschewistischen Partei vertreten werde. … Es gehe darum, den faktischen Waffenstillstand auf alle Fronten auszudehnen und „so das Heranreifen der Arbeiterrevolution in allen Ländern zu beschleunigen“. (S. 372–373)

Und dann kam der Rote Oktober. Diese zehn Tage, die die Welt erschütterten, waren eine der unblutigsten Revolutionen. Vor allem zwei Proklamationen der jungen Sowjetmacht trugen dazu bei: Das waren die Dekrete über den Frieden und über Grund und Boden. Hier ist anzumerken, dass der Text des Letzteren nicht von den Bolschewiki stammte, sondern wortwörtlich von den Sozialrevolutionären übernommen wurde, die noch im August 1917 mehrheitlich in den Sowjets die Bauern vertraten. (Vgl: Die ersten Dekrete der Sowjetmacht. Berlin 1987, S. 48–52; S. 54–57) Am 7. November bekräftigte Lenin: „Wir glauben an die Revolution im Westen. Wir wissen, dass sie unvermeidlich ist, aber auf Bestellung lässt sie sich natürlich nicht machen.“ (LW, Bd. 24, S. 286)

In den folgenden Monaten geriet die Sowjetmacht dann jedoch in eine extrem schwierige Lage. Lenin musste angesichts der Unvermeidbarkeit des „Brester Friedens“ mit dem kaiserlichen Deutschland entschieden radikale Stimmungen in den eigenen Reihen bekämpfen, die ihn sogar für einige Zeit im Zentralkomitee in die Minderheit brachten. Denn Ultralinke forderten, sofort einen revolutionären Krieg gegen Deutschland zu führen. Deshalb schrieb er im Januar 1918: „Sollte die deutsche Revolution in den nächsten drei, vier Monaten ausbrechen und siegen, dann würde vielleicht die Taktik des sofortigen revolutionären Krieges unsere Revolution nicht zugrunde richten. … Wenn aber die deutsche Revolution in den nächsten Monaten nicht ausbricht, so werden die Ereignisse bei einer Fortsetzung des Krieges unvermeidlich so verlaufen, dass schwerste Niederlagen Russland zwingen werden, einen noch ungünstigeren Separatfrieden zu schließen, wobei dieser Frieden nicht von einer sozialistischen Regierung geschlossen würde, sondern von irgendeiner anderen …Denn die bäuerliche Armee, durch den Krieg aufs äußerste erschöpft, würde bereits nach den ersten Niederlagen, wahrscheinlich nicht in einigen Monaten, sondern schon in einigen Wochen, die sozialistische Arbeiterregierung stürzen. … Bei einer solchen Lage der Dinge wäre es eine absolut unzulässige Taktik, das Schicksal der in Russland bereits begonnenen sozialistischen Revolution aufs Spiel zu setzen nur wegen der Hoffnung auf den Ausbruch der deutschen Revolution in der nächsten Zeit, innerhalb einer sehr kurzen, nach Wochen zählenden Frist. Eine solche Taktik wäre Abenteurerpolitik. Wir haben kein Recht, ein solches Wagnis einzugehen. … Und die deutsche Revolution wird, was ihre objektiven Grundlagen betrifft, keineswegs erschwert werden, wenn wir einen Separatfrieden schließen. Wahrscheinlich wird der Taumel des Chauvinismus sie für eine Zeitlang schwächen, aber die Lage Deutschlands bleibt außerordentlich schwer, der Krieg gegen England und Amerika wird sich in die Länge ziehen, der aggressive Imperialismus auf beiden Seiten voll und ganz entlarvt werden. Das Beispiel der sozialistischen Sowjetrepublik in Russland wird als lebendiges Vorbild vor den Völkern aller Länder stehen. Hier – die bürgerliche Ordnung und der völlig als Eroberungskrieg entlarvte Krieg zweier Gruppen von Räubern. Dort – der Frieden und die sozialistische Republik der Sowjets.“ (Ebenda, S. 448–449)

Auch jetzt veränderte das keineswegs Lenins Prognose. Er betonte: „Uns, den russischen Werktätigen und ausgebeuteten Klassen, ist die ehrenvolle Rolle des Vortrupps der internationalen sozialistischen Revolution zugefallen, und wir sehen jetzt klar, wie die Entwicklung der Revolution weit voranschreiten wird. Der Russe hat begonnen, der Deutsche, der Franzose, der Engländer werden vollenden, und der Sozialismus wird siegen.“ (S. 471) Im Februar lesen wir dann: „… ein Sieg Liebknechts, der möglich und unausbleiblich ist, sobald die deutsche Revolution heranreift und Gestalt annimmt, wird uns von allen internationalen Schwierigkeiten erlösen, er wird uns auch eines revolutionären Krieges entheben. (…) (Bd. 27, S. 6–7) Es galt, eine harte, aber notwendige Lehre zu beherzigen: „Man darf die große Losung ‚Wir setzen auf den Sieg des Sozialismus in Europa’ nicht zu einer Phrase machen. Das ist eine Wahrheit, wenn man den langen und schwierigen Weg bis zum vollständigen Sieg des Sozialismus im Auge hat … Aber jede abstrakte Wahrheit wird zur Phrase, wenn man sie auf jede beliebige Situation anwendet.“ (Ebenda, S. 49) …

Als die Sowjetrepublik schließlich den Separatfrieden mit Deutschland zu bedeutend härteren Bedingungen unterzeichnen musste, folgerte Lenin: „Eine Periode schwerster Niederlagen hat begonnen, der bis an die Zähne bewaffnete Imperialismus hat sie einem Lande beigebracht, das seine Armee demobilisierte, demobilisieren musste.

Was ich vorausgesagt habe, ist in vollem Umfang eingetroffen. An Stelle des Brester Friedens haben wir einen viel demütigenderen Frieden bekommen, durch Verschulden derjenigen, die den Brester Frieden nicht angenommen haben.“ (S. 89)

An der Schwelle des von den Weißgardisten entfesselten Bürgerkriegs und der militärischen Interventionen von schließlich 14 kapitalistischen Staaten musste er klarstellen: „Man begreift auch, dass wir die sozialistische Revolution im Westen, die sich infolge einer Reihe von Ursachen verspätet, eine ernste Unterstützung nur in dem Maße erweisen werden, in dem wir es verstehen, die uns gestellte organisatorische Aufgabe zu lösen.“ (S. 230) Aber auch jetzt ließ er keinen Zweifel aufkommen: „Die siegreiche proletarische Revolution in Deutschland würde mit einem Male, mit größter Leichtigkeit, jede Schale des Imperialismus zerbrechen (…), den Sieg des Weltsozialismus ohne Schwierigkeiten oder mit geringfügigen Schwierigkeiten bestimmt verwirklichen – freilich, wenn man den weltgeschichtlichen Maßstab der ‚Schwierigkeit‘ nimmt und nicht den engen Spießermaßstab.“ (S. 232–233)

Wie schwer die Bürde war, wurde deutlich, als Lenin in der zweiten Junihälfte 1918 schrieb: „Man weiß nicht, wie sich die revolutionäre Bewegung in Deutschland jetzt entwickeln wird. Unzweifelhaft ist nur, dass dort eine ungeheure revolutionäre Kraft vorhanden ist, die mit eiserner Notwendigkeit in Erscheinung treten muss“ (S. 549)

Doch dann endlich, am 23. August: „Wir haben viele Opfer gebracht. Der Brester Frieden ist eine einzige schwere Wunde; wir haben auf die Revolution in Deutschland gewartet, aber damals war sie noch nicht herangereift. Das geschieht jetzt.“ (Bd. 28, S. 71)

Und schließlich die erlösende Botschaft – das Telegramm vom 10. November 1918 an alle Deputiertensowjets mit der Überschrift in großen Lettern: „AN ALLE, AN ALLE

Heute Nacht traf aus Deutschland die Nachricht vom Siege der Revolution in Deutschland ein. Zuerst sandte Kiel einen Funkspruch, dass die Macht sich dort in den Händen des Arbeiter- und Matrosenrats befindet. Dann brachte Berlin folgende Meldung:

‚Freiheits- und Friedensgruß an alle. Berlin und Umgegend in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates.’“ (Ebenda, S. 174)

Lenin, sichtlich erleichtert: „ es ist so gekommen, wie wir es gesagt haben. Der deutsche Imperialismus, von dem manche glaubten, es sei der einzige Feind, ist zusammengebrochen. Die deutsche Revolution, die manchem (um einen bekannten Ausdruck Plechanows zu gebrauchen) ein ‚Mittelding zwischen Traum und Komödie’ zu sein schien, ist Tatsache geworden.“ (S. 182–183)

(…) Die Bolschewiki haben sich erst Anfang der zwanziger Jahre, als die revolutionäre Nachkriegskrise ihren Höhepunkt überschritt, im Zuge der Ausarbeitung der Neuen Ökonomischen Politik, darauf eingestellt, – sich einstellen müssen –, dass Sowjetrussland nunmehr über längere Zeit allein einen außerordentlich schweren und dornenvollen Weg in Richtung Sozialismus zu bewältigen hat. (…)Epel in

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"Der Rote Oktober und deutsche Arbeiterklasse", UZ vom 27. Oktober 2017



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