Von Anträgen, Polizeieskorten, Schnaps und antiimperialistischem Befreiungskampf – Ein Reisebericht von der Generalversammlung des WBDJ

Die ganze Welt ist mein Dorf

Tatjana Sambale und Freya Pillardy

Das Lächeln beginnt bereits bei der Ankunft: Zwei Genossen von EDON, der zypriotischen WBDJ-Mitgliedsorganisation und Gastgeberin der WBDJ-Generalversammlung, begrüßen uns damit am Flughafen, und von diesem Zeitpunkt an ist es allgegenwärtig, das Lächeln, die Freundlichkeit, das gegenseitige Verständnis und die Solidarität. Wir sind als SDAJ-Delegierte nach Zypern geflogen, um in unserer Funktion als Vertreterinnen der deutschen WBDJ-Mitgliedsorganisation mit fast 200 Delegierten aus 90 Ländern fünf Tage lang politische Einschätzungen zur aktuellen Weltlage zu diskutieren und damit die Grundlage für die Arbeit des Weltbunds der Demokratischen Jugend (WBDJ) in den nächsten vier Jahren zu legen.

Um 5.30 Uhr früh klingelt der Wecker und es ist sehr praktisch, dass wir uns ein großes Doppelbett teilen. Auf einem normal großen Bett hätten all die Delegiertenunterlagen, Anträge, Ergänzungen und Zeitpläne, die wir nun zur Bearbeitung und Durchsicht um uns herum ausbreiten, vermutlich gar keinen Platz gefunden. Mit Markern, Stiften und einer Übersetzungs-App bewaffnet, bearbeiten wir die 11-seitige englischsprachige politische Erklärung und sechs weitere Themenanträge, überprüfen, welche im Vorfeld gestellten SDAJ-Änderungsanträge bereits durch das Präsidium angenommen und eingearbeitet wurden und welche wir im Verlauf der Konferenz noch werden stellen und verteidigen müssen.

Um 8.00 Uhr gibt es ein schnelles Frühstück im Speisesaal, um 8:30 Uhr finden wir uns, wie im Zeitplan vorgesehen, vor dem Hotel zur Abfahrt in Richtung Tagungsort ein – nur um festzustellen, dass wir beinahe die Einzigen sind. Ein kurzer Blickwechsel mit den Genossen der KJÖ aus Österreich genügt und wir wissen, dass wir im Begriff sind, alle Klischees über Pünktlichkeit im deutschsprachigen Raum zu erfüllen. Allerdings haben wir in diesem Fall die Motivation der Gastgeber, den Zeitplan einzuhalten, auf unserer Seite. Während die EDON-Genossen die anderen Delegierten freundlich, aber bestimmt zur Abfahrt drängen, haben wir Zeit, uns über zwei mit Blaulicht vorfahrende Polizeifahrzeuge zu wundern. Ein EDON-Genosse bemerkt unsere besorgt-zurückhaltenden Blicke und fragt, ob alles in Ordnung ist „Was wollen die hier?“, fragen wir mit Blick auf die bewaffneten Beamten. „Die sind unseretwegen hier“ antwortet der zypriotische Genosse. „Warum, wir haben doch wirklich gar nichts getan, was soll das denn?“, fragen wir erbost zurück, und da geht dem Genossen ein Licht auf: „Nein, nein, keine Sorge, das ist das Protokoll, für euch, weil ihr doch internationale Gäste seid“, antwortet er lächelnd und ergänzt verschwörerisch: „Und der, der den Einsatz leitet, ist ein Genosse, also macht euch keine Sorgen.“

Es ist 10.00 Uhr. Wir sitzen auf unseren Plätzen im Konferenzsaal, der sich im Gebäude der größten Lehrergewerkschaft Zyperns befindet, und diskutieren gerade, dass „Rules of Procedure“ irgendwie moderner klingt als „Geschäftsordnung“, als mit einem kurzen Musikstück die Versammlung offiziell eröffnet wird. Es folgen Grußworte aus aller Welt, die meist auf Englisch gehalten und simultan über Kopfhörer in Spanisch, Arabisch und Griechisch übersetzt werden. Sie berichten vom Kampf gegen Krieg, Imperialismus und Ungerechtigkeit. Sie sprechen von Solidarität, Verbundenheit und den Herausforderungen durch einen schier übermächtigen Gegners, dem nur vereint beizukommen ist. Und sie reichen von Australien über Asien, Afrika und Europa bis nach Lateinamerika.

Zur Pause um 13.00 Uhr heißt es: Schnell nach draußen, Wasser und Kaffee organisieren und alle anderen wichtigen Geschäfte erledigen, denn danach beginnt die Antragsdiskussion. Lange bevor die ersten Zwiegespräche richtig Fahrt aufnehmen können, setzt bereits der Rückstrom in den Saal ein. „Lets talk about imperialism, shall we?“ fragt uns ein gut gelaunter Genosse, während er sich grinsend den letzten Bissen seines Kuchenstücks in den Mund schiebt. Bevor wir seinen Namen auf dem Delegiertenschild entziffern können, ist er auch schon wieder weg, zurück in den Konferenzraum, aus dem uns die Mikrofonansage mit nachdrücklicher Dringlichkeit an das Ende der Kaffeepause erinnert. Die Gesichter der Genossen sind bei der Rückkehr in den Konferenzsaal ob der anstehenden Diskussion eher konzentriert als amüsiert, aber als drei Stunden später tatsächlich innerhalb des Zeitplans und ohne größere Verzögerungen eine gemeinsame Abschlusserklärung aller 92 Organisationen einstimmig angenommen wird, steht die Freude über diese Gemeinsamkeit im Mittelpunkt. Während wir klatschen, lassen wir unsere Blicke durch den Saal schweifen: Hier sitzen, arbeiten und diskutieren die palästinensischen Genossen neben denen aus Israel, die Genossen aus Indien neben denen aus Pakistan, die aus den USA neben den Venezolanern und Kubanern, und freuen sich zusammen über ein Dokument, das den Imperialismus als gemeinsamen Feind der arbeitenden und lernenden Jugend weltweit benennt und Ausdruck unseres gemeinsamen Kampfes ist. Neben allem anderen macht diese Erkenntnis vor allem eins: hungrig. Hungrig nach mehr Geschichten, Austausch, Erfahrungen, neuen Kontakten und alten Freunden. Aber auch ganz wortwörtlich: hungrig nach dem ausstehenden Abendessen.

Dieses findet in den örtlichen Parteiräumlichkeiten statt und bietet erneut wunderbare Gelegenheiten, sich, je nach Sitznachbar, über die Situation von GrundschullehrerInnen in Kanada, die Dürreperiode in Namibia oder den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen auf den Philippinen zu informieren. Während uns die Genossen mit Fleischspießen, Würsten vom Grill, frischem Fladenbrot, Salat, Oliven und vielem mehr verwöhnen, sind neben den Lateinamerikanern besonders die französischen Genossen angesichts der großen Streiks und Proteste als Gesprächspartner sehr gefragt. Nach vielen Runden Essen und Getränken neigt sich die Stimmung gegen 23:00 Uhr dem Höhepunkt entgegen, während mehrfach und mit musikalischer Live-Begleitung „Bella Ciao“ gesungen wird, bevor uns die Busse zurück ins Hotel bringen. Dort angekommen bleibt noch kurz Zeit, letzte Absprachen für den nächsten Tag zu treffen, oder, mit viel Glück und der richtigen Menge Kaffee, auch noch das ein oder andere Gespräch mit einer Schwesterorganisation zu führen.

Es ist kurz vor Mitternacht und wir treffen uns mit den italienischen Genossen zum bilateralen Gespräch. „Hello, we are Tatjana and Freya from the German socialist, äh, socialist German, äh, wait …“ Wer daran zweifelt, dass es Situationen geben kann, in denen einem der eigene Organisationsname entfällt, der hat noch nie eine Woche lang eine WBDJ-Generalversammlung bestritten. Ein kurzer Blick auf die Mitschrift der italienischen Genossen verrät uns, dass sie es auch ohne unser Zutun geschafft haben, SDAJ zu Beginn ihrer Gesprächsnotizen richtig zu notieren. Es entsteht eine kurze Pause, in der wir versuchen, die Wörter in unserem Kopf zum Herauskommen in der richtigen Reihenfolge und Sprache zu überreden, und währenddessen wird erstmal nur gelächelt. Die italienischen Genossen lächeln uns an, wir lächeln zurück, und da ist es wieder, dieses Lächeln voller: „Ja, wir wissen, es ist spät und wir sind alle müde. Aber wir sitzen hier, weil wir an das Gleiche glauben und für das Gleiche kämpfen wie ihr, und wenn das bedeutet, nachts um halb zwölf bilaterale Gespräche über unsere Schüli-Politik zu führen, dann ist das eben so!“. Ermuntert von diesem Lächeln, das es so wohl nur hier, im WBDJ-Kontext, zwischen Genossen gibt, fangen wir an. Wir fragen, schreiben, notieren, beantworten, bis es gegen halb zwei endgültig Zeit ist, ins Bett zu gehen.

Dieses Arbeitspensum ist für die Tage der Generalversammlung gesetzt, jede freie Minute wird ausgenutzt für Gespräche, Fragen, Diskussionen, Interviews. In dem Wissen, Möglichkeiten wie diese, Treffen mit GenossInnen aus der ganzen Welt und Fragen zu ihrem Alltag und ihren Kämpfen, sind selten und kostbar.

Am letzten Tag wird gewählt. Dabei liegt ein Schwerpunkt klar auf den vorherigen politischen Diskussionen in den fünf WBDJ-Regionen, die jeweils sieben Vertreter in den Generalrat des WBDJ entsenden. Für die CENA-Region, die Europa und Nordamerika umfasst, werden einstimmig die Genossen aus Griechenland, der Türkei, Zypern, Portugal, Kanada, der UJCE aus Spanien und des Komsomol aus Russland benannt. Die SDAJ wird ebenfalls einstimmig in den Womens Council mit Rede- und Diskussionsrecht im Generalrat des WBDJ delegiert. Neuer Präsident des WBDJ wurde Aritz Rodríguez von der UJCE, neuer Generalsekretär Yusdaquy Larduet von der kubanischen UJC. Die Generalversammlung endet nach fünf Tagen Diskussion mit sieben verabschiedeten Dokumenten und einem neuen, international besetzten Vorstand nur 10 Minuten hinter dem beschlossenen Zeitplan.

Doch damit ist das Programm noch nicht beendet. Nach Empfang im Außenministerium und Abschiedsessen mit den zypriotischen Genossen fahren wir ein letztes Mal zurück ins Hotel. Dort angekommen, ist es dann Zeit, sich den wirklich wichtigen Fragen zu widmen: Zur Party ins russische Zimmer oder das Erlernen spanischer Sprechchöre bei den Genossen aus Lateinamerika? Die Nacht ist noch jung, Fahnen gibt es genug, und so werden Gruppenbilder in allen möglichen und jenseits des WBDJ vermutlich unmöglichen Zusammensetzungen geschossen. Die letzte Nacht ist die längste und kürzeste zugleich. Während an der ein oder anderen Stelle der Status der bilateralen internationalen Beziehungen unter eher zwischenmenschlichen Vorzeichen weiter vertieft wird, feiern wir mit der schweizerischen Genossin in ihren Geburtstag hinein. Die EDON-Genossen haben einen Geburtstags-Cupcake organisiert, und so wird mit zypriotischem Bier und Schnaps auf einen erfolgreichen weltweiten antiimperialistischen Befreiungskampf angestoßen. Und während wir uns matt lächelnd vor Erschöpfung allmählich auf unsere Rückkehr in die harte bundesdeutsche Realität vorbereiten, bleibt uns der Spruch des indischen Genossen in Erinnerung: „The whole world is my village“ oder auch: „Freunde sind wie Laternen – sie machen den Weg zum Sozialismus nicht kürzer, aber heller.“


Die Jugend der Welt muss den Kampf gegen die aktuelle Entwicklung eines Rüstungswettlaufs intensivieren. Die Ausdehnung und Stärkung der NATO und ihr neues strategisches Konzept, das Eingriffe in die interne Entwicklung anderer Länder als Polizeitruppe der imperialistischen Interessen unter jedem beliebigen Vorwand erlaubt, bestätigt die NATO als mörderischste Einrichtung unserer Welt, nicht nur wegen ihrer siebzigjährigen Geschichte aus Tod und Zerstörung, sondern auch wegen ihrer künftigen Interventionsabsichten.
Aus der Politischen Erklärung der 20. Generalversammlung des WBDJ

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die ganze Welt ist mein Dorf", UZ vom 3. Januar 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit