Die letzte Kolonie Afrikas

Martin Schwander im Gespräch mit Omeima Abdeslam

Aus: „Unsere Welt“, Zeitung der Schweizerischen Friedensbewegung, Nr. 4/2017. Redaktionell gekürzt

1963 sprach die UN-Generalversammlung dem Volk der Sahraoui in der damaligen spanischen Kolonie Westsahara das Selbstbestimmungsrecht zu, 1975 wurden weite Teile des phosphatreichen Landes durch marokkanische Truppen und Siedler überrannt. Zwar mündete der Krieg zwischen Polisario, der Befreiungsfront der Westsahara, und Marokko 1991 in einem Waffenstillstand, doch die damals vereinbarte Volksbefragung über die Unabhängigkeit des Landes hat bis heute nicht stattgefunden. Martin Schwander, Redakteur von „Unsere Welt“, der Zeitung der Schweizer Friedensbewegung, befragte Omeima Abdeslan, die Vertreterin der Polisario bei der UNO in Genf, zur Situation in ihrer Heimat.

Martin Schwander: Am 27. Februar 1976 rief die Polisario-Front den unabhängigen Staat Demokratische Arabische Republik Sahara (RASD) aus. Können Sie uns kurz die Vorgeschichte der Staatsgründung in Erinnerung rufen?

Omeima Abdeslam: Bis zum 26. Februar 1976 besaßen die Sahraoui die rechtliche Stellung der Bevölkerung eines „Hoheitsgebietes ohne Selbstregierung“, entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts. Angesichts der unverantwortlichen Haltung der spanischen Regierung, sich aus dem Gebiet zurückzuziehen, ohne den Prozess der Entkolonialisierung so abzuschließen, wie sie sich dazu vor der UNO in verschiedenen Absichtserklärungen und Übereinkommen verpflichtet hatte, beschloss die Polisario, dem Willen des Sahraoui-Volkes entsprechend, die Demokratische Arabische Republik Sahara auszurufen.

Legitimität und Rechtmäßigkeit dieser Handlung wurden rasch durch die Unterstützung und Solidarität jener Völker gewürdigt, die unter derselben Geißel des Kolonialismus gelitten hatten. In kaum fünf Jahren weitete sich der Kreis der Länder, welche den neuen Staat anerkannten, über Afrika auf Lateinamerika und Asien aus.

Martin Schwander: Seit Ende 1975 sind weite Teile Ihres Landes durch marokkanische Truppen besetzt und die Westsahara wurde durch Hunderttausende von Marokkanern besiedelt. Wie sieht die Lebenssituation Ihrer Bevölkerung aus?

Omeima Abdeslam: Die Lebensbedingungen unseres Volkes unter der Besatzung entsprechen ziemlich genau jenen, wie sie in irgendeinem Bericht oder Handbuch über die Bedingungen unter militärischer und illegaler Besetzung eines fremden Territoriums beschrieben werden. Die Nachbarschaft zu einem territorial gierigen Staat und das Desinteresse der internationalen Gemeinschaft kommen uns sehr teuer zu stehen. Die Besatzungsmacht will unser Land und seine Bevölkerung verschlingen und sie ihrem eigenen Territorium einverleiben. Von der Weltöffentlichkeit vollkommen unbeachtet, übersteigt das Ausmaß des Leidens der Sahraoui unter der Besatzung jegliches Vorstellungsvermögen.

Seit mehr als vierzig Jahren gibt es keinen einzigen offiziellen und öffentlichen Bericht, der über den Fortschritt in der Westsahara informiert. Dieses Gebiet ist zu einem eigentlichen „Schwarzen Loch“ geworden. Es gibt mitten im 21. Jahrhundert keinen einzigen offiziellen und öffentlichen Bericht einer internationalen Organisation, der sich mit der Menschenrechtssituation in der Westsahara beschäftigt. Es tut weh, sich vorzustellen, dass diejenigen, die die Welt regieren, diese Daten nicht kennen, aber das ist die hartnäckige Realität unserer Tage.

Ja, natürlich gibt es Berichte von der Polisario-Front, Berichte des Königreichs Marokko, Berichte von großen und kleinen NGOs, die im Bereich der Menschenrechte tätig sind, Presseberichte usw. Aber alle diese Berichte sind parteiisch und haben wegen der Wirkung der „gegenseitigen Aufhebung“ keinen Wert.

Das heißt, was die einen bestätigen, bestreiten die andern, und so werden sie durch die Organe der UNO (Generalversammlung, Sekretariat, Sicherheitsrat) letztlich alle ignoriert.

Martin Schwander: Die RASD wird heute von 84 Staaten offiziell anerkannt und ist Mitglied der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU). EU-Staaten fehlen vorläufig noch darunter. Offenbar wollen viele Staaten ihre Wirtschaftsbeziehungen mit Marokko nicht aufs Spiel setzen?

Omeima Abdeslam: Wir haben nichts dagegen, dass alle Länder der Welt enge Beziehungen der Freundschaft und Zusammenarbeit mit dem Königreich Marokko unterhalten.

Was wir fordern ist, dass sich diese Beziehungen in Übereinstimmung mit und in absolutem Respekt vor den Zielen und Grundsätzen der UNO-Charta gestalten und den allgemeingültigen Verpflichtungen nachkommen, welche sich aus den zwingenden Normen des Völkerrechtes ergeben.

Auf jeden Fall müssen wir uns daran erinnern, dass kein Staat der Welt die Souveränität des Königreichs Marokko über die Westsahara anerkennt. Wenn also die Handelsbeziehungen zwischen zwei Staaten ein Gebiet außerhalb der Souveränität dieser beiden Staaten berühren, wissen beide, dass diese Situation mit den Grundsätzen, die die internationalen Beziehungen regeln, unvereinbar ist.

Solange diese Situation weiterbesteht, greift die Polisario-Front zur Beilegung der Kontroversen entsprechend ihren internationalen Verpflichtungen auf friedliche Mittel zurück, das heißt sie ruft die Gerichte an.

So hat beispielsweise das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 21. Dezember 2016 gezeigt, dass die Polisario-Front über eine eigentliche „Atombombe“ verfügt: Die Fülle von juristischen Argumenten, die für sie sprechen, hat es ihr ermöglicht, 28 Staaten der Europäischen Union, wovon zwei Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates mit Vetorecht sind, eine gerichtliche Niederlage zu bereiten (der Gerichtshof der Europäischen Union bestätigte am 21. Dezember 2016, dass das Freihandelsabkommen zwischen Marokko und der EU nicht auf die Westsahara angewendet werden darf, die Red.).

Martin Schwander: Die Generalversammlung der UNO hat verschiedentlich das Selbstbestimmungsrecht der Sahraouis festgestellt und fordert seit Jahrzehnten die Abhaltung eines Referendums.

Omeima Abdeslam: Das einzige und wirkliche Hindernis, das die Lösung des Konflikts verunmöglicht, heißt „République Française“. Es ist die unerklärliche Position Frankreichs und seine schändliche Unterstützung für Marokko, die diesen Konflikt anheizen. Es ist die französische Position, die Frieden, Stabilität und Wohlstand in der gesamten Region Nordwestafrika bedroht.

Die Mitglieder der Europäischen Union übernehmen ihren Anteil der Schuld, indem sie der Position Frankreichs, ohne sie zu hinterfragen, einfach folgen. Mit sichtbaren Konsequenzen wie etwa dem Urteil vom 26. Dezember 2016.

Nun weckt allerdings die Ernennung des neuen UNO-Sonderbeauftragten, des ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Horst Köhler, viel Vertrauen in einem Volk, das seit mehr als 40 Jahren auf etwas so Normales und so Grundlegendes hofft wie die Anwendung der Regeln, welche die internationale Gemeinschaft an die Spitze des Völkerrechts gesetzt hat: Das Recht auf Selbstbestimmung, welches dem sahrauischen Volk von der UNO-Vollversammlung 1963 zuerkannt worden war.

Die Hoffnungen beruhen zu einem großen Teil auf dem beträchtlichen historischen Hintergrund der nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Und in diesem Konflikt, wir unterstreichen es noch einmal, ist der Schlüssel zu einer Lösung die Position von Frankreich.

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"Die letzte Kolonie Afrikas", UZ vom 12. Januar 2018



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