Christoph Heins neuer Roman „Verwirrnis“

Die Möglichkeiten und Leiden der Anderen

Von Rüdiger Bernhardt

Christoph Hein: Verwirrnis. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, geb. 304 Seiten, 22, – Euro

Der Roman „Verwirrnis“ hat mehrere Handlungen, die aus unterschiedlichen sozialen Bereichen stammen und bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichen. Bevorzugt spielen sie im Lehrer-, Bildungs-, Kunst- und Wissenschaftsmilieu; Erziehung spielt anfangs eine große Rolle. Ein auffallender Handlungsstrang ist eine schwule Liebesgeschichte zwischen dem 1933 geborenen Friedeward Ringeling, der zur Hauptgestalt wird, und dem etwa gleichaltrigen Wolfgang Zernick, der den Freund, die Liebe zu ihm und sein Land 1955 verlässt und in den Westen geht. Dadurch scheidet er aus der Handlung weitgehend aus und unterwirft sich dort der überholten gesetzlichen Diskriminierung, wird zweimal offiziell verdächtigt, schwul zu sein, und muss deshalb den Arbeits- und Wohnort wechseln. Aber diese Geschichte des Freundespaars, zu dem sich noch ein lesbisches Paar gesellt, macht nur einen Teil des Romans aus, das wäre für den Chronisten Christoph Hein zu wenig: Er nutzt diese Beziehungen, um das Schicksal individueller Lebensmöglichkeiten im 20. Jahrhundert zu verfolgen; er folgt brutalen Erziehungspraktiken, die den Untergang des Nationalsozialismus überdauerten wie manches andere. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich im Verlauf des Jahrhunderts trotz der Kriege, massenhaften Verbrechen, gesellschaftlichen Umbrüchen und begründeten Hoffnungen in mancher Hinsicht wenig verändert hat. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde wieder der alte Zustand erkennbar. Zwar hat es 1957 zur Homosexualität eine entsprechende Gesetzgebung in der DDR gegeben: „Der Staat war im Osten weiter als im Westen, aber die Bevölkerung war kleinbürgerlich geblieben.“ Doch wurde nun solches Verhalten von den meisten geduldet. Deshalb wurde es für Friedeward Ringeling, Literaturprofessor an der Universität in Leipzig, möglich, gesetzlich gesichert sein anderes Leben, das er geheim hielt, geduldet zu leben. Nach 1990 wurde es ihm schwer, dieses Leben in gewohnter Weise und gesetzlich sicher weiterzuführen: Verleumdet, gedemütigt und erpresst, nun als Bundesbürger, nimmt er sich 1993 das Leben.

Aus Heins in den vergangenen drei Jahren erschienenen Romanen bildet sich nicht nur eine imposante Reihe – der dritte, neue Roman gehört dazu, zumal die Werke fortwährend eigene und andere literarische Zeugnisse aufrufen, sondern es entsteht zudem ein lexikalisches Kunstwerk der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist bereits jetzt vergleichbar den Zyklen bei Balzac und Zola zum 19. Jahrhundert. Heines drei Romane beschreiben an unterschiedlichen Beispielen ähnlich einer Chronik, wie sich nach 1989 alte ökonomische, moralische, politische sowie die Besitz-Verhältnisse reproduzierten.

Dass es um andere als allgemein übliche Lebensführungen geht und nicht nur um Homosexualität, wird im Titel deutlich. Nicht zufällig verwendet Hein das veraltete Wort, das für „geistiges Durcheinander“ und „Unsicherheit“ steht. Der neue Roman Heins beginnt ruhig und verhalten, fast ein wenig beschaulich – verstärkt durch den abseits gelegenen Handlungsort im Eichsfeld – und ohne Aufregung: Lediglich der Lehrer Pius Ringeling vertritt ein archaisches Erziehungskonzept und macht seinem Papstnamen keine Ehre, sondern erweist sich als brutaler Zuchtmeister der eigenen Familie und vor allem des jüngsten Sohnes Friedeward, da sich die anderen Kinder seinem Einfluss entziehen, indem sie das Haus verlassen. Aber nachdem die beiden Hauptgestalten, deren innige Freundschaft und gemeinsame Lektüreinteressen in Liebe umgeschlagen sind, als Liebende überrascht worden sind, noch dazu am ersten Advent, gerät alles in Bewegung, wird hektisch und zerstörerisch.

Die Handlung ist zeitlich genau festgelegt: Sie reicht von der Geburt Pius Ringelings am Anfang des 20. Jahrhunderts, der sich als Siebzehnjähriger als Freiwilliger 1918 in den Ersten Weltkrieg gemeldet hat, über seinen Sohn Friedeward, geboren 1933, der in Leipzig Germanistik studiert, dann promoviert und habilitiert, schließlich, ohne in der SED zu sein, 1980 Professor in der DDR wird. Auslandsreisen in die USA und andere Länder werden ihm genehmigt. 1977 trifft er bei einer Reise in die BRD Wolfgang wieder. Sein ihn stets beschäftigendes Problem ist seine Homosexualität. Er lebt sie im Verborgenen, selbst nach 1957, als sie in der DDR nicht mehr strafbar ist. Aber die anerzogene Scham lebt fort und ist ein unwiderstehlicher Zwang, die Homosexualität geheim zu halten. Gedeckt durch eine Scheinehe und sonst unangefochten kann Friedeward damit leben. 1989 kommt die Wende, man hofft auf einen „gerechten, einen demokratischen Staat“, auch Friedeward beteiligt sich, doch bekommt er ein System der radikalen Verkürzung: „Ich habe Tausende Kollegen und Mitarbeiter zu entlassen“, klagt der neue Rektor. Auch falsche Verdächtigungen sind an der Tagesordnung; der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen steht über den demokratischen Institutionen. Verleumdet, gedemütigt und erpresst nimmt sich Friedeward 1993 das Leben. Gesellschaftlich aber wurde eine „intakte Hochschullandschaft vernichtet“, die Universität enteignet und eine neue Klassengesellschaft geschaffen, „die Klasse der Täter und die Klasse der Opfer“, wie der neue Rektor erklärt, der nach Friedewards Tod mit der Erklärung „Nicht mit mir“ deutlich wird.

Die historischen Daten des 20. Jahrhunderts werden zu Gunsten der biografischen Vorgänge der Hauptgestalten zurückgestellt. Begriffe stehen für Gesamtvorgänge; ihren Gesamtinhalt muss der Leser einbringen. Man kann darauf das Motto des Autors beziehen: „Darauf will ich mich später erinnern.“ Wesentlicher historischer Einschnitt ist die Änderung des Strafrechts zum 1.1.1958, dass homosexuelle Handlungen nicht mehr strafbar sind. Aber das allgemeine Bewusstsein folgt dem nur allmählich. Das gesellschaftliche Leben, das Friedewald erlebt, ist dennoch ein normales, bestimmt von Arbeit, Bildung und einem widerspruchsreichen Leben. Die Besonderheit individueller Verhaltensweisen, Veranlagungen und Bewährungen kann er damit in Übereinstimmung bringen, bis dieses Leben geändert wird. Dem gehört die Aufmerksamkeit des Autors.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Die Möglichkeiten und Leiden der Anderen", UZ vom 12. Oktober 2018



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