Robert Ballaghs Gemälde über den Blutsonntag von Derry

Die Opfer stehen im Mittelpunkt

Robert Ballaghs soeben enthüllte künstlerische Äußerung zum Blutsonntag in Derry vor 50 Jahren spielt deutlich auf Goyas „Der 3. Mai 1808“ an. Der Bezug ist klar: Goya malt die Hinrichtung von Spaniern auf spanischem Boden durch die französische Armee, Ballagh die Ermordung von Iren auf irischem Boden durch britische Soldaten.

Der Blutsonntag war ein Wendepunkt im Konflikt im Norden Irlands. Er zerstörte die Bürgerrechtsbewegung, die Ende der 60er Jahren durch friedliche Demonstrationen das sektiererische, repressive unionistische Regime international ins Rampenlicht gerückt hatte.

Am 13. August 1969 hatte die britische Labour-Regierung Truppen entsandt, zunächst um den blutigen Angriffen sektiererischer Banden auf nationalistische Gemeinden ein Ende zu setzen.

Als jedoch im Juni 1970 die mit den Unionisten verbundenen Tories mit Edward Heath an die Macht kamen, führte dies zu einem Anstieg der Repressionen, die im August 1971 in der Internierung ohne Gerichtsverfahren gipfelten.

Vor dem Massaker an 14 unbewaffneten Demonstranten in Derry, als die justizlose Internierung im August 1971 eingeführt wurde, erschoss das Fallschirmjägerregiment zehn Demonstranten, darunter eine Mutter und einen Priester, im Massaker von Ballymurphy. Ein in London von höchsten Regierungskreisen ausgearbeiteter Plan zielte darauf, den Widerstand durch „kollektive Bestrafung“ der katholischen Gemeinschaft im Norden Irlands zu brechen.

Die Demonstranten in Derry am 30. Januar 1972 forderten Bürgerrechte und ein Ende der Internierung. Die Absprache zwischen dem Polizeipräsidenten und der nord­irischen Bürgerrechtsorganisation (NICRA) sah vor, dass der friedliche Marsch in einem katholischen Gebiet stattfinde und die IRA keine bewaffnete Präsenz zeige. Die Tories und ihre unionistischen Verbündeten waren zunehmend über friedliche Proteste verärgert. Ein Angriff auf eine solche Demonstration könnte international als Kampf gegen den „Terrorismus“ dargestellt werden. Und so wurde das Massaker von Heath und hochrangigen Militärs geplant und von 16 Soldaten des 1. Bataillons des britischen Fallschirmjägerregiments (1Para) ausgeführt. Bis heute ist es zu keiner Anklage der Schuldigen gekommen.

Der Titel von Robert Ballaghs Gemälde, „Der 30. Januar“, verdeutlicht die Verbindung zu Goyas Werk, wie auch die Bildsprache selbst. Gibt Goya den Horizont von Madrid als Ort der Hinrichtungen von 1808 vor, ist es bei Ballagh Derry.

In beiden Gemälden stehen die Opfer im Mittelpunkt. Ihre Gesichter sehen wir, nicht die der Soldaten. Während Goya den Moment der Hinrichtung wählt, malt Ballagh eine Szene unmittelbar nach Beginn des Massakers. Er zeigt uns zwei Opfer, eines sterbend, das andere tot. Verzweifelte, deutlich erkennbare Personen eilen auf uns zu – ein Pressebild, das um die Welt ging. Pater Daly hält ein weißes, blutiges Taschentuch, bemüht, diese Menschen zu beschützen, um das erste Opfer, den tödlich verletzten Jackie Duddy, in Sicherheit zu bringen. Auch sie halten blutbefleckte weiße Taschentücher hoch und unterstreichen so den friedlichen, blutig niedergeschlagenen Protest. Auch auf Goyas Gemälde steht ein Mönch den Aufständischen gemeinsam mit anderen zur Seite. Erinnert man sich, dass Pater Hugh Mullan beim Ballymurphy-Massaker erschossen wurde, ist er eine vielschichtige Figur.

Ein weiteres Opfer im Vordergrund ist in ein weißes, blutiges Tuch gehüllt. Weiß assoziiert Frieden, Unschuld und Märtyrertum und erinnert den Betrachter an das strahlend weiße Hemd des Mannes in Goyas Gemälde. Der Tote wird auf der rechten Seite von einer Gruppe gesichtsloser bewaffneter Soldaten flankiert, während ein weiterer Soldat auf der linken Seite neben der Leiche kniet. So, wie die Soldaten ihre Gewehre auf Hüfthöhe halten, schießen sie willkürlich, ohne zu zielen. Für die mit den Ereignissen des Tages Vertrauten suggeriert der linke Soldat „Soldier F“, der sich hinkniete, um Barney McGuigan zu erschießen, als dieser, ein weißes Taschentuch hoch über seinem Kopf schwenkend versuchte, dem sterbenden Patrick Doherty zu Hilfe zu kommen. „Soldat F“ war für eine Reihe von kaltblütigen Morden verantwortlich und der einzige Soldat, der angeklagt wurde – um später freigesprochen zu werden.

Die Demonstranten sind unbewaffnet. Zwei Plakate auf dem Boden sind klar erkennbar. Sie fordern Bürgerrechte und ein Ende von Internierung. Ein Banner für Bürgerrechte nimmt titelgleich die obere Bildmitte ein.

Das Gemälde verweist nicht nur auf Goya, sondern auch auf Picassos „Guernica“, seinerseits von Goya inspiriert und ebenfalls Zeugnis des Mordes ausländischer Invasoren an der einheimischen Bevölkerung. Auch Ballagh entschied sich für ein monochromes Gemälde. Die rechte Hand des Toten hält noch immer das abgebrochene Ende des Plakats, ähnlich wie der Erschlagene in Picassos Gemälde noch das zerbrochene Schwert greift. Die einzige Farbe ist Blut.

In der linken Ecke, unter dem Fuß des knienden Soldaten, sieht man ein beschriebenes Blatt Papier mit dem militärischen Codenamen des Massakers, Operation Forecast, datiert auf den 30. Januar 1972, unterzeichnet von Generalmajor Robert Ford: „Ich komme zu dem Schluss, dass das Minimum an Gewalt, notwendig um die Wiederherstellung von Recht und Ordnung zu erreichen, in der Erschießung ausgewählter Rädelsführer unter den jungen Hooligans von Derry liegt.“ Ballagh lässt keinen Zweifel daran, dass die Tötungen auf höchster Ebene angeordnet wurden. Auch in dieser Hinsicht geht das Gemälde weiter, als es je eine Untersuchung getan hat.

Kunst- und Zeitgeschichte sind verbunden. Der Blutsonntag ist Teil der Weltgeschichte von Kolonialismus, Besatzung und Widerstand. Robert Ballaghs Gemälde zeigt das sowie die Notwendigkeit von Kunst.

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"Die Opfer stehen im Mittelpunkt", UZ vom 28. Januar 2022



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