60 Millionen, Meridol und Steinpilze im Winter

Die Welt ist krank

„Schreibst du was über Verkatertes-Vier-Schanzen-Tournee-Gucken?“, schickte mir die Redakteurin aufs Handy und ich antwortete: „Nö.“

Weil, erstens war ich da sicher noch nicht wach gewesen am Neujahrstag, zweitens würde mir von den vielen schwarzrotgoldenen Fahnen, die da geschwenkt werden, höchstens übel. Und drittens: Magersüchtige Irre in Strumpfhosen einen Hügel runterfallen zu sehen finde ich ungefähr so spannend wie Steinpilze sammeln im Winter. Der einzige Sport, den ich mir zum Teil angesehen habe, war die Darts-WM. Aber auch nur, weil ich selber mal – grauenhaft schlecht zwar, aber immerhin – diesem ehemaligen Kneipensport gefrönt habe. Peter „Snakebite“ Wright, der Außenseiter, gewann schließlich das Endspiel gegen Michael van Gerwen, den Weltranglisten-Ersten. Für die Medien eine lohnende Geschichte („In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, warf der Schotte als Kind Pfeile auf Bäume, auf die er vorher eine Darts-Scheibe gemalt hatte“). Ebenso wie das „Darts-Märchen“ von Fallon Sherrock, die als erste Frau für einen Sieg beim größten Turnier der Welt sorgte. Alles schon schick, aber wie auch beim Fußball mittlerweile umgeben von Kommerz, Medienhype und Tralala. Die Welt ist krank.

Im deutschen Fußball, der pausiert, passierte logischerweise wenig. Dortmund hatte im Kampf um Sturmtalent Erling Braut Haaland einige sehr namhafte Clubs ausgeschaltet, der 19-jährige, 1 Meter 94 große Stürmer unterschrieb beim BVB. Für „nur“ 20 Millionen, was ich schon pervers finde, aber wenn man etwas genauer rechnet, für wohl circa 60 Millionen: Bei einer Vertragslaufzeit von viereinhalb Jahren und acht Millionen Euro Jahresgehalt (!) entspricht das einem Gesamtvolumen von 36 Millionen Euro. Dazu kommt eine Provision von 3 Millionen Euro für den zwielichtigen Berater Mino Raiola. Das Gesamtpaket umfasst also mit der Ablöse von 20 Millionen knapp 60 Millionen Euro. Für einen 19-jährigen Fußballer, der bisher ein Jahr gut gespielt hat. Die Welt ist krank.

Der FC Schalke verliert zeitgleich Torwart Alexander Nübel an die Bayern, zumindest zum Ende der Saison, und was die Schalker Anhänger ein weiteres Mal zu Weißglut treiben wird: ablösefrei. Was der Junge in einem Verein will, in dem Manuel Neuer ohne Punkt und Komma die Nummer Eins ist und vorerst auch bleiben wird? Auf der Bank sitzen und noch mehr verdienen als die fünf Millionen, die ihm Schalke pro Jahr angeboten hat. Was für ein Horst. Die Welt ist krank.
2019: Mehr als 1.000 Menschen sind in einem Jahr im Mittelmeer ertrunken oder werden seit ihrer Flucht vermisst. Es herrschen brutale Kriege und Konflikte, Vertreibung und Not. Alleine in Syrien haben rund 6,7 Millionen (!) Menschen das Land verlassen müssen (Stand: Januar 2019). In Europa sind Nazis auf dem Vormarsch, unverblümter in Sprache und Tat denn je. Das Klima verreckt und die alten weißen Männer machen im Internet unglaublich schlechte, sexistische Witze über Greta Thunberg und kaufen SUVs, als gäbe es kein Morgen mehr – ups, da war doch was.

Und 2020? Ballern die USA als erstes im Irak einen iranischen General weg. Kriegsgefahr? Scheißegal.

Ganz ehrlich? Die Welt ist krank.

Der Apotheker, bei dem ich das Rezept für mein Blutdruckmittel einreiche, gratuliert mir zum neuen Jahr nach kurzem Überlegen mit einer Gratisflasche „Meridol Mundspülung“. Warum, zur Hölle, ausgerechnet Mundspülung? Stinke ich? Mir fällt nichts mehr ein, ich trotte nach Hause und denke nur: Die Welt ist krank.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Die Welt ist krank", UZ vom 10. Januar 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit