Gegen Geschichtsrevisionismus, Russenhass und Kriegstreiberei

Ein Appell an das Gewissen

Bruno Mahlow

Bruno Mahlow ist Mitglied des Ältestenrates der Partei „Die Linke“, der Ende April offenbar wegen seiner konsequenten friedenspolitischer Positionen „neu besetzt“ werden soll. Der Brief der „Veteranen und Kinder des großen Vaterländischen Krieges“ an die deutsche Bevölkerung hat Mahlow zu seinem „Appell an das Gewissen“ veranlasst, den wir im Folgenden veröffentlichen. Bruno Mahlow – als Emigrantenkind 1937 in Moskau geboren – ist selbst „Kind des Krieges“. 1947 zog die Familie nach Berlin zurück. Mahlow studierte am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau und war im diplomatischen Dienst der DDR, unter anderem als Botschaftssekretär in Peking. Von 1973 bis November 1989 war er Vizechef der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, danach noch kurzzeitig deren Leiter. Ab 1990 beriet er die Internationale Kommission beim Parteivorstand der PDS.

In diesen Tagen bewegten und erschütterten mich zwei Dinge, denen ich hier einige sehr persönliche Zeilen widmen muss. Da ist zum einen der Brief von „Veteranen und Kindern des Großen Vaterländischen Krieges an die Regierung und das Volk Deutschlands“ und zum anderen die Reaktionen – besser: die leider verbreitete Nichtreaktion beziehungsweise Gleichgültigkeit – gegenüber diesem Zeitdokument.

Der Brief der Veteranen ist ein Aufschrei der Enttäuschung und Verbitterung, aber auch eine Mahnung zur Erinnerung.
Ich bin Kind deutscher Emigranten, geboren in Moskau. Und ich bin ein „Kind des Krieges“, des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion – diesen Status haben in Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken Menschen, die zwischen 1927 und 1945 geboren wurden und den Krieg überlebt haben.

Meine Eltern waren Kommunisten und Antifaschisten. Mein Vater musste sich als kommunistischer Abgeordneter in Berlin-Kreuzberg bereits im Januar 1933 vor der polizeilichen Fahndung verstecken. Meine damals 8-jährige Schwester erlebte die Brutalität der Nazis während der Hausdurchsuchungen hautnah. Ihr musste, wie auch später mir, kein Antifaschismus „verordnet“ werden.

Als Kind nahm ich die ersten Bombenabwürfe auf Moskau und die einzelnen Stimmungen und Reaktionen der Erwachsenen nur zum Teil wahr. Manches kam bei späteren Erzählungen dazu. Besonders stark waren zu Beginn aber die Enttäuschung einerseits und der Unglaube andererseits: „Wie kann das sein, ausgerechnet das Volk Schillers, Goethes, Heines, Beethovens – das konnten die revolutionären deutschen Arbeiter doch nicht zulassen …“ Hinzu kam natürlich Panik, viele Moskauer verließen fluchtartig die Stadt.

Wir deutschen Emigranten wurden in verschiedenen Militär- und Verwundetentransporten nach Taschkent in Usbekistan evakuiert. Man kümmerte sich um uns, vor allem um meinen querschnittsgelähmten Vater. Ohne Hilfe hätten wir es nicht geschafft. Einem der begleitenden sowjetischen Offiziere versprach ich: „Wenn ich groß bin, dann kämpfe ich auch gegen Hitler!“ Immer noch habe ich den Anblick der Verwundeten auf den Verbandsplätzen vor Augen und ihre verzweifelten Rufe nach der Mutter im Ohr.

Bis heute stoße ich auf großes Unwissen über das Leben im sowjetischen Hinterland während des Krieges, über das Heldentum der zum Teil in Trauer lebenden Frauen und Kinder. Jeder einzelne Sieg war mit unsagbar vielen persönlichen Opfern in der gesamten Sowjetunion verbunden. Der Krieg reichte bis in den kleinsten Aul Kirgistans hinein, wie es Tschingis Aitmatow in „Djamila“ beschrieb. Die Sowjetmenschen teilten mit uns das Wenige, was sie zum Leben hatten. Wir lebten in Taschkent zunächst zu viert in einem Schuppen auf dem Hof, anschließend waren wir in einem sechs Quadratmeter kleinen Raum im Haus untergebracht.

Während der Zeit in unserer Kommunalwohnung in der Ujesdnajastraße 26 in Taschkent halfen uns die Armenierin Anja, die meinem an Krämpfen leidenden Vater notwendige Spritzen verabreichte, der Ukrainer Onkel Fedja, der bei Erdbeben meinen Vater auf seinen Armen aus dem Haus in den Hof trug, und dessen russische Frau, Tante Dusja, die sich um Besorgungen kümmerte.

Ich wuchs wie ein sowjetischer Kriegsjunge auf. Dabei litt ich zunächst darunter, wenn man mich als Deutschen bei Kinderkriegsspielen den „Fritzen“ darstellen lassen wollte. Ich habe mich dann als „Partisan“ durchgesetzt. Gleich nach der Einschulung bekam ich die Ruhr. Es war wirklich rührend, wie sich unsere Lehrerin Lydia Wassiljewna um mich als deutschen Jungen kümmerte und uns zu Hause besuchte. Unsere Schule erhielt den Namen des gefallenen usbekischen Helden der Sowjetunion, General Sabir Rachimow. An dessen Beisetzung kann ich mich gut erinnern.

Es ist das Menschliche, das über alle nationalen und ethnischen Unterschiede hinausgehende Miteinander, an das ich mich bis heute erinnere und das ich tief in mir bewahre. Natürlich gab es nicht nur positive, sondern auch so manche negativen Eindrücke, die mich sehr sensibel gemacht haben. Diese Sensibilität blieb mir, vor allem als ich aufgrund der Rückkehr meiner Eltern nach Deutschland kam.

Ich musste mir viel anhören: Wie man gelitten und dass man auch viel durchgemacht habe, dass man ja nichts gewusst habe und nur die Nazis schuld gewesen seien. Kein Reflektieren über die Ursachen, die eigene Verantwortung oder gar Schlussfolgerungen für die Zukunft. Ich brauste oft auf angesichts solcher Haltungen und griff dann häufig und schnell zu verurteilenden, verabsolutierenden Begriffen und Bewertungen.

Mit der Zeit begriff ich allerdings eine ganz einfache Lebensweisheit: Alle Menschen sind unterschiedlich. Mein Vater vermittelte mir eine weitere wichtige Lehre: „Junge, du kannst dir die Menschen nicht malen.“ Heute wende ich diese Lehre auch an, wenn es darum geht, mich mit meinen Mitbürgern auseinanderzusetzen, die sich oft selbst ihr Weltbild, ihre Vorstellung über Völker, Staaten und Nationen arrogant und ignorant „malen“.

Am schlimmsten hat es jetzt die russischen Menschen getroffen. Als Ende der 1980er-Jahre die Ortsgruppen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) sehr schnell aufgelöst wurden, hörte ich als Begründung: „Das ist nicht mehr die UdSSR“ oder „Ich mag den Präsidenten nicht“. Ich entgegnete: „Aber was ist mit den Völkern, den Russen, Ukrainern, Georgiern und so weiter – die bleiben doch. Es geht schließlich auch um unsere Haltung im Sinne guter Beziehungen und des menschlichen Zusammenhalts.“ In der letzten Vorstandssitzung der DSF warnte ich davor, hinter Otto von Bismarck zurückzufallen, der hinsichtlich der Beziehungen zum damaligen zaristischen Russland einem realpolitischen Ansatz folgte.

Gegenwärtig durchzieht unser Land und unsere Bevölkerung das Gift der Russophobie, des unbeherrschten Hasses. Die Medien sind eine aktive Waffengattung im ideologischen Krieg der Manipulation der Öffentlichkeit – gemeinsam mit den Politikern schüren sie diese feindliche Stimmung auf verantwortungslose Weise. Obwohl zur Vernunft erwachsener und gebildeter Menschen die Erkenntnis gehören sollte: Politik als Propaganda, die sich in Stimmungen oder Emotionen verliert, und eine Hinwendung zu Hochrüstung oder Hass können kein Ersatz für den Erhalt des Friedens sein.

Der oben erwähnte Brief der Kriegsveteranen ist in Deutschland leider nicht weit verbreitet worden, dabei enthält er einige sehr wichtige Aussagen.

Im Vorspann zum Brief heißt es, an alle Deutschen gerichtet: „Heute, da die deutsche Regierung beschlossen hat, tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern, hat sich die Welt verändert – die Umrisse eines neuen Weltkriegs sind mehr als deutlich sichtbar. Und wieder einmal ist es Deutschland! Aber es gibt ehrliche Menschen in Deutschland, Antifaschisten, und wir hoffen, dass diese Botschaft bei ihnen ankommt.“

Eine deutliche Aussage und eine klare Aufforderung!

Jeder Deutsche und erst recht die Antifaschisten sind jetzt gefragt. Wieder gibt es die Hoffnung: Im Brief verweist man darauf, dass man verziehen hat – so war es bis 2014. Man blickte hoffnungsvoll nach Deutschland und zeigte sich davon überzeugt, dass die Deutschen angesichts der neuen Naziaufmärsche „unsere Verbündeten bei der Verhinderung solcher Abscheulichkeit werden“. Und weiter „Wir hofften, dass sich die Deutschen – von einem elementaren Gewissen geleitet – nicht an dem offen faschistischen Staatsstreich in der Ukraine beteiligen würden. (…) Aber wir haben uns getäuscht! (…) Uns Veteranen dieses Krieges, seine Kinder, wühlt die Rolle der Deutschen auf.“

Der Brief macht deutlich, dass es im Wesentlichen „um die Vorbereitung auf den Dritten Weltkrieg“ geht und „wieder einmal um (…) die Deutschen – Deutschland“. Dazu wird als Begründung eine Aussage angeführt, die kein anständiger Deutscher teilen sollte: „Von der hohen deutschen Tribüne in Berlin hören wir heute: ‚Russland wird einen hohen Preis zahlen!‘“ Die Veteranen erinnern an die Geschichte: „Wir haben den Preis bereits bezahlt: 27 Millionen unserer Menschenleben. Genügt das Ihnen nicht? Über welchen Preis reden Sie noch?“

Die Politik der Bundesrepublik Deutschland, ihre willfährige Einbindung in den von den USA diktierten NATO-Kurs, die Forderung und Durchsetzung von – im Übrigen auch völkerrechtswidrigen – Sanktionen, der Weg zum Abbruch jeglicher, auch zivilgesellschaftlicher Beziehungen sind keine Schritte zur Deeskalation, sondern führen im Gegenteil zu einer weiteren Zuspitzung der Spannung.

Auch wenn mir manche widersprechen: Aber wir haben es mit einer von den USA und ihren NATO-Verbündeten lange vorbereitete militärischen Konfrontation mit Russland zu tun – wobei die USA selbst einem großen Krieg mit Russland aus dem Weg zu gehen bemüht scheinen. Vielmehr setzen sie, wie oft in der Geschichte, auf Stellvertreterkriege, tausende Kilometer von ihren eigenen Grenzen entfernt. Deshalb wurde die Ukraine als unmittelbarer Auslöser und das Kiewer Regime als Anti-Russland-Staat bewaffnet und ins Feld geführt.

Die Hochrüstung gegen Russland, der Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrags, die Verlegung neuer Truppen immer näher an Russlands Grenzen, die – entgegen allen Versprechungen vorgesehene – Stationierung von NATO-Truppen auf dem Territorium der ehemaligen DDR sowie der Wirtschafts- und Informationskrieg sind die entscheidenden Schritte der NATO-Strategie als transatlantische Militärmacht. Von „strategischer Autonomie“ der EU ist nichts übriggeblieben. Vielmehr sind inzwischen die EU und damit auch Deutschland fest in das Bündnis mit den USA eingebunden. Die dabei zu realisierenden Schritte sind den laufend aktualisierten Truppenstationierungsplänen zu entnehmen. Bundeskanzler Olaf Scholz ist seit Januar 2022 in die Pläne einer bewaffneten Konfrontation mit Russland nicht nur eingeweiht, sondern involviert.

Vergessen wir auch nicht, dass der Ausbau des transatlantischen Bündnisses auf wirtschaftlichem Gebiet sowie der angestrebte umfassende Abbau der Beziehungen westlicher Staaten zu Russland den eigenen Interessen Deutschlands und Europas sowie denen des Friedens entgegenstehen.

So bestätigt sich als Hintergrund für den Ukrainekrieg nicht nur die Einschätzung des Autors Jacques Baud in „Zeitgeschehen im Fokus“ Nr. 4/5 vom 15. März 2022 aus der Schweiz: „Seit dem Zweiten Weltkrieg war es immer die Politik der USA, zu verhindern, dass Deutschland und Russland beziehungsweise die UdSSR enger zusammenarbeiten.“ Diese Strategie ist Bestandteil der US-Pläne zur Gestaltung einer völkerrechtsfreien, „regelbasierten“ neuen Weltordnung.

Aus all diesen Gründen bedarf es des Appells an das Gewissen und notwendiger Konsequenzen aus dem Vermächtnis der Antifaschisten „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ – klar positioniert gegen den Kriegskurs von USA und NATO.

Die Tendenz zur Geschichtsfälschung, das Verharren in pauschal antirussischen Denkmodellen im Stil der 1930er- sowie der bundesrepublikanischen 1950er-Jahre, die schleichende Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und der Rolle der Sowjetunion, die Weigerung, den 8. Mai – den Tag der Befreiung – zum offiziellen Feiertag zu machen – dies und vieles andere führten zur heutigen geradezu pathologischen Russophobie. Bereits angesichts des nahenden 8. und 9. Mai wird das zusätzlich voll zum Tragen kommen – die Medien werden dafür sorgen. Mein Gewissen, mein Herz und mein Verstand wehren sich mit aller Kraft gegen diese nahezu barbarische, primitive, geschichtsvergessene und konfrontationsversessene Haltung. Mögen viele meiner deutschen Mitbürger nachdenklich werden!

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Ein Appell an das Gewissen", UZ vom 15. April 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Herz.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit