Eine Zäsur

Nina Hager zum Jahrestag der Grenzöffnung

Am Abend des 9. November 1989 saß ich in einer Veranstaltung im Planetarium im Prenzlauer Berg. Nur wenige, aber sehr interessierte Besucher waren gekommen. In der Pause sprach sich herum, dass sich am Grenzübergang Bornholmer Straße, vielleicht zwei Kilometer von uns entfernt, immer mehr Menschen versammelten. Wir hörten auch von der Pressekonferenz, auf der Schabowski nach Ankündigung neuer Reiseregelungen erklärt hatte, dass die Möglichkeit der Ausreise – seines Erachtens – ab sofort bestehe. Allen in der Veranstaltung war wohl klar, dass gerade etwas Entscheidendes passierte. Es blieb aber eigenartig still.

Der 9. November 1989 war eine Zäsur in der Geschichte des Herbstes 1989, vor allem des Sozialismus auf deutschem Boden. Nicht nur, weil am nächsten Tag die Regierung der UdSSR die Ereignisse als innere Angelegenheit der DDR öffentlich billigte. Gorbatschow hatte uns da ja wohl schon längst „aufgegeben“. Aber auch, weil ab diesem Tag die Stimmung endgültig kippte. Die D-Mark und die bald zunehmenden Versprechungen der Kohl-Regierung lockten. Aus „Wir sind das Volk!“ wurde auf den Straßen immer lauter „Wir sind ein Volk!“. Und all die hehren Ziele, alle Wünsche nach einer sozialistischen DDR mit mehr Mitspracherechten und weniger Gängelei, mehr Offenheit, mehr Demokratie, Reisefreiheit und so weiter, vielleicht in einer Konföderation, die manche wohl noch bis dahin hatten und die noch am 4. November in Berlin auf dem Alexanderplatz eingefordert worden waren, stellten sich als Illusion heraus.

30 Jahre später wurde der „Mauerfall“ wieder einmal groß gefeiert. Im Bundestag, auf Berlins Straßen und anderswo. Nachdenklichkeit gibt es wenig, auch wenn selbst der Unions-Fraktionschef im Bundestag Versäumnisse und Fehler im „Vereinigungsprozess“ zugab. Doch die Entlassungen, die Betriebsschließungen nach 1990 im Osten waren eben kein „Versäumnis“ oder ein „Fehler“. Das Volkseigentum der DDR wurde systematisch ausgeplündert. „Gewinner“ waren vor allem die westdeutschen Banken, Versicherungen und Konzerne, die den Osten auch als Experimentierfeld zum Abbau von Arbeiterrechten nutzten. Es hatte zudem fast alles zu verschwinden, was an die Leistungen der DDR erinnerte. Deren antifaschistischer Gründungskonsens wurde diffamiert. Doch nicht nur der angeblich verordnete Antifaschismus der DDR und ihre konsequente Friedenspolitik täten diesem Land – und nicht erst jetzt – mehr als Not.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Eine Zäsur", UZ vom 15. November 2019



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