Terminhinweis: „Mahngang zum Abrüsten“, Samstag, 28. April 2018, 10–12 Uhr, Elbbrücke Ostufer.
Unsere nationale Ehre und Würde hängt von dem Maß ab, wie wir unserer […] Verantwortung gerecht werden. Als Realisten und Amerikaner müssen wir dies erst einmal leisten. Erst dann sind wir in der moralischen Position, um von den anderen die Erfüllung ihrer moralischen Pflichten verlangen zu können. Die Ablehnung von Verantwortung ist unamerikanisch, bringt nur Feigheit, Defätismus, Gleichgültigkeit und Fatalismus hervor und wird zum nationalen und weltweiten Ruin führen“, formulierte Joe Polowsky im Juni 1948 in einem Bittschreiben, in dem er dazu aufrief, den 25. April als Tag der Begegnung an der Elbe und Gründungsdatum der Vereinten Nationen zu einem internationalen Antikriegstag zu erheben.
Die Soldaten, die an diesem Tag 1945 die Fronten überquerten, haben vielleicht mehr eine psychologische als eine militärische Grenze überschritten – vom sicheren Tod zur Hoffnung auf Leben. 1 200 Tage und 2 000 km liegen zwischen der Schlacht um Moskau Ende 1941 und der Begegnung an der Elbe im Frühling 1945. Für alliierte Soldaten, die an der Landung in der Normandie im Juni 1944 teilgenommen hatten, waren es 323 Tage und 1300 km. „Keiner verstand den anderen“, beschrieb Bill Robertson den Moment ihres Zusammentreffens, „aber das Gefühl der Gemeinsamkeit war unmissverständlich. […] Der Krieg war vorbei, der Frieden nahe. Wir alle würden die nächste Stunde, den nächsten Tag erleben.“
Zwischen 16. und 24. April hatten die US- und die Rote Armee, wie von beiden Oberkommandos vereinbart, die Mulde als östliche und die Elbe als westliche Frontlinie besetzt. Die 40 km dazwischen dienten als Niemandsland, aus dem sich zuvor die deutsche Wehrmacht nach Norden abgesetzt oder ergeben hatte. Eigentlich sollte alles geordneter ablaufen, aber die drei US-Patrouillen, die ein Gebiet von 5 Kilometern erkunden sollten, hielten sich nicht an ihre Befehle. Gegen Mittag traf eine von ihnen bei Strehla, ungefähr 30 km südlich von Torgau, auf sowjetische Soldaten. Über der Freude lagen letzte Schatten des Krieges: Das Ufer war übersät mit Leichen von Zivilisten, darunter auch Kinder. Der Schütze Joe Polowsky überliefert: „In diesem historischen Augenblick […] schworen alle anwesenden Soldaten feierlich – einfache Soldaten, Amerikaner und Russen –, dass sie alles in ihren Kräften Stehende tun würden, damit so etwas nie wieder auf der Welt geschehe. Wir versprachen einander, dass die Nationen der Erde in Frieden leben sollten und müssten. Das war unser ‚Schwur an der Elbe‘.“
Am Nachmittag wiederholte sich Ähnliches auf den Resten der zerstörten Elbbrücke in Torgau. Weil die Kommunikation mit der Patrouille in Strehla gestört war und nachdem Bill Robertson mit vier sowjetischen Offizieren aus Torgau in seinem Regimentshauptquartier in Trebsen eingetroffen war, fiel die Entscheidung: Am Morgen des 26. April 1945 schlossen die Kommandeure der amerikanischen und sowjetischen Regimenter und am Nachmittag die Generäle beider Divisionen offiziell die Fronten des europäischen Krieges in Torgau. „Damit war“, wie Marschall Konew schrieb, „die faschistische Wehrmacht im Herzen Deutschlands endgültig gespalten.“ In Berlin tobte bereits die Schlacht zur völligen Niederwerfung des deutschen Faschismus.
Während des Tages strömten viele Soldaten, mit und ohne Befehl, in die Stadt, und auf den Straßen ereigneten sich Szenen der Verbrüderung, die in Bildern und Berichten festgehalten wurden. Ein Foto ging um die Welt: Allen Jackson ließ den historischen Handschlag, den sich Soldaten 24 Stunden vorher auf der Torgauer Elbbrücke gegeben hatten, nachstellen, und am 28. April schmückte er die Titelseiten vieler Zeitungen.
Hätten jene Menschen die Geschichte gestaltet, die damals auf ihrer Bühne standen, wäre das 20. Jahrhundert anders verlaufen. Doch im März 1947 verkündete US-Präsident Harry S. Truman seine Doktrin von der Eindämmung des Kommunismus und aus Freunden im heißen Krieg wurden Feinde in einem kalten. Auch der republikanisch gesinnte Joe Polowsky nahm darin keine ganz neutrale Haltung ein. Er blieb seiner Überzeugung von der moralischen Überlegenheit Amerikas ebenso treu, wie er sein Leben aufopferungsvoll der Erinnerung an den Schwur an der Elbe widmete. „In dem Willen, das Verständnis der Völker der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion voranzubringen, erklären wir die alljährliche Feier des Elbe-Tag in beiden Ländern zu unserem Ziel. Wir Weltkriegsveteranen haben nun drei große Treffen gehabt […]: an der Elbe 1945, in Moskau 1955 und nun hier in Washington 1958. Es soll unser Ziel sein, die Freundschaft zwischen der Sowjetunion und den USA […] zu stärken“, heißt es in einer Erklärung der Veteranen beider Armeen in Washington am 25. April 1958. Die Treffen gehen zurück auf die Initiative Joe Polowskys, der 1960 und 1961 an den Gedenkfeiern in Torgau teilnahm und sich 1983 in der Stadt sogar beerdigen ließ. Auch ein Gymnasium trug bis zu seiner Schließung 2008 seinen Namen.
Der 25. April 1945 ist ein Tag, dessen Deutung von den Widersprüchen seines Jahrhunderts bestimmt wurde. Seit 1990 feiert ihn die Stadt offiziell als „Elbe Day“, der 1985 von 40 US-Bundesstaaten zum World-Peace-Day erklärt wurde. Damit ging ein Wunsch Joe Polowskys in Erfüllung, und manches daran mag wie eine Befreiung von ideologischen Zwängen erscheinen, denn gewiss trug auch das Gedenken in der DDR den Stempel politischer Befangenheit: Man tat sich mit dem amerikanischen Teil der Befreier auch nicht leicht. Das kommerzielle Spektakel von heute läuft aber nicht weniger Gefahr, als Monstranz und Gegenwartsbestätigung zu dienen, die der amerikanische Schriftsteller Studs Terkel in den 1990er Jahren so beschrieb: „Wir haben seitdem vergessen, besonders die Amerikaner. Wir haben keinen Sinn für Geschichte. […] Vor ein paar Jahren gab es eine Umfrage unter Kindern. Etwa 40 Prozent von ihnen dachten, wir hätten damals im Zweiten Weltkrieg gegen die Russen gekämpft. Es ist verrückt. Wir sind das reichste Land der Welt und doch so arm an Erinnerungen.“
Auch „Familienprogramm, Flohmarkt & Feuerwerk“, mit denen Torgau den „Elbe Day“ 2018 bewirbt, werden daran wenig ändern. „Torgau feiert“, heißt es im Faltblatt. Die DKP erinnert: „‚Meinst Du, die Russen wollen Krieg?‘, fragte Jewgeni Jewtuschenko 1961 in seinem bekannten Gedicht. Die Antwort darauf liegt auch in den Erfahrungen derer, die im April 1945 an der Elbe aufeinander trafen. Als DKP möchten wir dazu beitragen, sie aufrecht zu erhalten, im Sinne der bedrückend aktuellen Worte Joe Polowskys in seiner Bittschrift: ‚Lasst uns in Friedenszeiten all den Hindernissen gegenüber moralisch so heldenmütig und standhaft sein, wie wir im Krieg militärisch heldenmütig und standhaft waren, so dass neben den Reihen unserer ehrenhaft Gefallenen nicht eines Tages die hundertfach größere Zahl der Kinder dieser Welt liegen wird.‘ “