Putschversuch Prigoschins in Russland

Finger in der Wunde

Die Russische Föderation ist ein in vieler Hinsicht zerrissenes Land – wirtschaftlich, sozial und – wie sich am vergangenen Wochenende im Putschversuch des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin zeigte – auch im staatlichen und im militärischen Bereich. Die furchtbaren Folgen des Raubtierkapitalismus der 90er Jahre sind nicht überwunden, im Gegenteil, es herrscht Massenarmut. Im Dezember vergangenen Jahres nannte der Erste stellvertretende Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Juri Afonin, solche Fakten: „Unser Land steht weltweit an erster Stelle, was das Verhältnis zwischen dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) und dem Gesamtvermögen der Milliardäre betrifft, das 36 Prozent des BIP beträgt.” Russland liege bei der Lebenserwartung auf Platz 96 in der Welt, beim materiellen Lebensstandard auf Platz 52.

Das Präsidium der KPRF hat vor diesem Hintergrund am Sonnabend den Finger in die Wunde gelegt: „Das System der privaten Militärunternehmen selbst ist eine Ausgeburt liberaler Ansichten über die Organisation der Gesellschaft.” In großen Teilen der russischen Gesellschaft wird der Klassenspaltung immer noch mit dem neoliberalen Wahn begegnet, den die kluge Reaktionärin Margaret Thatcher klassisch formuliert hat: „Ich denke, wir haben eine Zeit durchlebt, in der zu vielen Kindern und Menschen zu verstehen gegeben wurde: ‚Ich habe ein Problem, es ist die Aufgabe der Regierung, damit fertig zu werden!‘ (…) So werfen sie ihre Probleme auf die Gesellschaft und wer ist die Gesellschaft? So ein Ding gibt es nicht! Es gibt einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien.”

Diese Ideologie des Antisozialen wurde in Russland nach 1991 dominierend. Prigoschin ist einer ihrer Exponenten. Auf die geplante Kündigung seines Geschäftsmodells reagierte er mit einem Putschversuch.

Die KPRF hat in ihrer Erklärung das Problem ins Allgemeine gehoben: Es geht letztlich um die öffentliche Kontrolle staatlichen Handelns insgesamt, das heißt, um ein Problem, das im Kapitalismus nicht zu lösen ist. Die soziale Spaltung bedingt die Spaltung zwischen Staat und Bevölkerung. Patriotische Mobilisierung mag darüber eine gewisse Zeit hinwegtäuschen. Ereignisse wie Prigoschins Angriff werfen letztlich die Frage nach Sozialismus auf, in Russland die nach einer Resowjetisierung. Eine Antwort kann darauf heute nicht gegeben werden, was bedeutet: Die Bevölkerung der Föderation geht schweren Zeiten entgegen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Finger in der Wunde", UZ vom 30. Juni 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Schlüssel.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit