Zum „Sturm auf den Reichstag“

Geheuchelte Empörung

„Es ist beschämend, 75 Jahre nach der Befreiung von nationalsozialistischem Terror das zu erleben“, stottert Claudia Roth von den Grünen ins Mikrofon. „Dass am Deutschen Bundestag die Reichsflagge wieder weht, das ist etwas, was nicht zu ertragen ist“, bekennt Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU. Und der Sozialdemokrat und Möchtegernkanzler Olaf Scholz ist „sehr dankbar für die Polizistinnen und Polizisten, die hier ihren Einsatz gezeigt haben und gehandelt haben“. Außerdem weiß er, worauf es ankommt: „Wir müssen alles dafür tun, dass solche Bilder vor dem Gebäude des Bundestags nicht mehr entstehen.“

Damit trifft er es auf den Punkt: „solche Bilder“ dürfen nicht mehr entstehen. Darum dreht sich die gesamte Pseudoempörung um die Reichsbürger und ihre illustren Verbündeten von esoterischen Heilpraktikerinnen bis QAnon-Anhängern, die am Samstag am Eingang des Reichstags auf nur drei Polizisten trafen. Dass so etwas möglich war, wird in verschieden Medien vor allem auf eine „Schwachstelle im Polizeigroßeinsatz“ zurückgeführt. Klar, an was anderem kann es ja nicht liegen, wenn Nazis in diesem Land schalten und walten können, wie sie wollen.

Nun wollten sie also ohne Mandat und ohne Besucherticket in den Bundestag. Schlimm, keine Frage, auch überaus ekelhaft anzusehen. Aber dass sich die Politikerinnen und Politiker in diesem Land hinstellen und, wie SPD-Generalsekretär Klingbeil gegen über der „Tagesschau“, sich verwundert darüber zeigen, dass „der Verfassungsschutz noch zwei Tage vor der Demonstration gesagt hat, es gibt keinerlei Hinweise, dass Rechtsextreme versuchen, diese Demonstration für sich zu kapern“, ist Heuchelei.

Wenn man in diesem Land die NPD nicht verbieten, den NSU-Komplex nicht ausermitteln, faschistische Organisationen nicht zerschlagen und den aktenschreddernden und Nazi-Organisationen aufbauenden Verfassungsschutz nicht auflösen will, dann darf man sich nicht darüber wundern, dass es Nazis und ein paar angestachelte Mitläufer auch mal an die Tür des Reichstags schaffen.

Um rauszufinden, was Reichsbürger, Nationalisten und Faschisten für den letzten Samstag in Berlin geplant haben, hätte es noch nicht mal den Einsatz der stets nazi-freundlichen Schlapphüte gebraucht. Das konnte man vorher im Internet nachlesen. Wenn es einen denn interessiert hätte.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Geheuchelte Empörung", UZ vom 4. September 2020



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