Terry Eagleton führt direkt und über Umwege zum Materialismus von Marx und Engels

Gut erklärt, aber umbenannt

Von Lucas Zeise

gut erklaert aber umbenannt - Gut erklärt, aber umbenannt - Eagleton, Materialismus, Politisches Buch - Theorie & Geschichte

Terry Eagleton

Materialismus

Die Welt erfassen und verändern

Promedia Verlag

Wien, 2018, 192 Seiten

17,90 Euro

Über Nietzsche und Wittgenstein Marx verstehen lernen? Eine verrückte Methode. Terry Eagleton versucht sie in seinem Buch „Materialismus“. Und siehe da, sie funktioniert nicht. Natürlich gibt es zwischen allen Denkern Parallelen (und Gegensätze). Man kann sich über eine solche Feststellung lustig machen, ganz so wie Eagleton sich lustig macht über die in der Tat schlichte Feststellung dialektischer Materialisten, alles hänge mit allem zusammen. Zum Nutzen für den Leser stellt der Autor die Kapitel über Nietzsche und Wittgenstein an den Schluss seines Buches. Bei Wittgenstein könnte Eagleton, der an der Universität Lancaster englische Literatur lehrt, das Motiv gehabt haben, dass der späte Ludwig Wittgenstein als Stammvater der analytischen Sprachphilosophie an britischen Universitäten immer noch sehr viel gilt. Er dient vielen dort lehrenden akademischen Philosophen dazu, durch die von ihm genutzte Analyse des Sprachgebrauchs althergebrachte philosophische Fragen (wie etwa die nach dem Sinn des Lebens) als unsinnig zu entlarven und damit zugleich die Kritik an den herrschenden Zuständen als unwissenschaftlich hinzustellen. Wittgenstein hat aber tatsächlich, wie Eagleton ausführt, anhand von Sprachspielen gezeigt, „wie materielle Zeichen innerhalb einer praktischen Lebensform wirken“. (S. 27) Was die Praxis als Kriterium der Wahrheit und was die Entstehung von Sprache und Bewusstsein in der kooperativen Arbeit betrifft, ist Wittgenstein also nahe am Materialismus von Marx und Engels.

Den weitaus überwiegenden Teil seines Buches widmet Eagleton der Darstellung und Erläuterung der philosophischen Haltung von Marx. Das ist von vorn bis hinten angenehm und sehr verständlich zu lesen, sodass man als Leser gern der manchmal sprunghaften Darstellung folgt. Schon der Einstieg macht den Autor und sein Vorhaben sympathisch. Er wendet sich gegen die „postmoderne Orthodoxie“, die im Gefolge von Michel Foucault den menschlichen Körper ausschließlich als kulturelles Konstrukt versteht und „für die erstaunlicherweise alle universellen Ansprüche unterdrückerisch sind“ (S. 8). „Schon in den 1980er Jahren wichen die Gespräche über Sozialismus“, schreibt Eagleton im Vorwort, „jenen über Sexualität, und eine kulturelle Linke, die größtenteils betreten über den Gegenstand des Kapitalismus schwieg, äußerte sich immer lautstarker über die Frage der Körperlichkeit.“ (S. 9). „Für die Postmoderne ist die Wirklichkeit nur Ton in unseren Händen, den der herrschaftliche Wille ausrollt, in Streifen schneidet, weichklopft und anschließend ummodelt. So eine Position ist nichts weiter als eine spätkapitalistische Version der alten gnostischen Ablehnung der Materie.“ (S. 16)

Materialismus ist für Eagleton „somatischer Materialismus“. Auch „Marx ist ein somatischer Materialist“ (S. 73), schreibt Eagleton. Er meint damit, dass der Mensch wie andere Tiere auch Produkte der Natur sind. Der menschliche Körper hat, schon als er noch der Körper eines Tieres war, den Stoffwechsel mit der übrigen Natur betrieben. Aber der Stoffwechsel hat seinen Charakter verändert, der Mensch formt ihn um, er formt sich selbst um im Zuge der Arbeit und wird damit historisch. Eagleton (S. 84): „In den Augen von Marx ist die Natur grundlegender als die Geschichte, weil sie uns in Gestalt unserer Gattungswesen überhaupt erst erlaubt, eine Geschichte zu haben.“ Und: „Arbeit … ist für Marx … eine erkenntnistheoretische Kategorie wie eine gesellschaftliche und ökonomische.“ Eagleton mag Marx‘ Philosophie „somatischen Materialismus“ nennen, er stellt aber auf diesen Seiten wesentliche Momente des „historischen Materialismus“ gut und pädagogisch geschickt dar.

Umso sonderbarer wirkt da eine Begriffsverwirrung. „Historischer Materialismus“ ist für Eagleton nämlich aus irgendeinem Grund weniger als das. Historische Materialisten müssten keine Atheisten sein, schreibt er. Es bestehe „keine logische Verbindung“ zwischen dem Atheismus und dem historischen Materialismus. Denn der historische Materialismus sei „nicht ontologisch ausgerichtet“. (S. 17/18) Letzteres ist sicher der Fall. Und in kommunistischen Parteien wie der DKP zum Beispiel finden sich in der Tat auch Christen. Die „logische Verbindung“ allerdings stellt Eagleton im Buch mehrmals selbst her, wenn er Marx und den historischen Materialisten zustimmt, die Religion und Gott als Produkt des menschlichen Bewusstseins darstellen. Der Glaube an Gott als Weltschöpfer ist damit logisch nicht zu vereinbaren. „Historischer Materialismus“ ist für Eagleton enger bestimmt, nämlich als Lehre vom Klassenkampf, von sozialer Befreiung und vom „Sieg des Proletariats“. Er ist bei ihm eine politische Richtung, nämlich die Politik kommunistischer und linker sozialistischer Parteien. Der Nachteil an Eagletons Begriffsbestimmung besteht darin, dass er der Politik der Kommunisten und Sozialisten die philosophische Grundlegung nimmt. Bei Marx und Engels jedenfalls ist der historische Materialismus, wie er in der „Deutschen Ideologie“ 1845/46 zum ersten Mal weitgehend komplett formuliert ist, die unmittelbare Voraussetzung, um das „Kommunistische Manifest“ 1847 zu verfassen. Eagleton schildert auch das in beeindruckender Weise in diesem insgesamt sehr lesenswerten und anregendem Buch.

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"Gut erklärt, aber umbenannt", UZ vom 4. Mai 2018



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