Kretschmann sucht die neue Mitte

Jasper Prigge über Selbstkritik, Schwule und die AfD

In einem Namensbeitrag für „Die Zeit“ beschäftigt sich der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann „selbstkritisch“ mit der Frage, ob die Grünen in ihrer Politik „vielleicht etwas falsch gemacht“ und damit zum Aufstieg der AfD beigetragen hätten. Analyse und Schlussfolgerungen Kretschmanns zeigen vor allem, dass er, Kretschmann, gerade alles falsch macht. Vor allem, weil er sich vom Kampf um Emanzipation und sexuelle Vielfalt distanziert.

Beginnend mit der Frage „Woher kommt diese wachsende Spaltung?“ und damit der Aufstieg der AfD, verweist Kretschmann zwar auf „soziale Verwerfungen“, schiebt diese aber auf „Globalisierung und technischen Fortschritt“. Kein Wort zur Verantwortung der Grünen für die Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV. Genau diese sozialen Verwerfungen und die Angst vor dem sozialen Abstieg sind die soziale Basis, auf der Rechtspopulismus und neofaschistische Tendenzen derzeit aufblühen. Doch – und darum geht es Kretschmann – die neoliberale Wirtschaftspolitik der Grünen soll nicht in Frage gestellt werden. Aber irgendwo müssen die Grünen ja etwas falsch gemacht haben?

Und, schwupps, landet Kretschmann bei den Schwulen und Lesben: Er schreibt von der „neuen Liberalität bei individuellen Lebensentwürfen“ und davon, dass „die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot“ seien. Da müssen Schwule und Leben nun also dankbar sein für Liberalität? Freiheit ist kein Recht, sondern ein „Angebot“? Und morgen ist das Angebot eventuell nicht mehr verfügbar, oder wie? Kretschmann relativiert so ganz nebenbei Grundrechte, um gleichzeitig auf die AfD zugehen zu können: „So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so.“ Gute Mehrheit, böse Minderheit, denn als Gegensatz zur klassischen Ehe schreibt er im Satz zuvor: „Individualismus darf nicht zum Egoismus werden“ und bedient damit das Klischee vom selbstverliebten Schwulen.

Zwar, so Kretschmann, gelte es, die „Liberalität“ und die „Angebote“ zu verteidigen, aber: „Es geht darum eine neue Mitte zu finden“, führt Kretschmann aus und wechselt dabei zum Thema „Sprache“. Er schreibt weiter: „Schließlich brauchen wir eine Sprache, in der wir uns politisch verständigen können. Auf der einen Seite erleben wir eine tendenziell übersteigerte politische Korrektheit, auf der anderen Seite das krasse Gegenteil: einen Verbalradikalismus und eine Verrohung der Sprache.“

Gendersternchen auf der einen Seite, Volksverhetzung und hate speech auf der anderen. Und der Herr Grünen-Ministerpräsident rät allen Ernstes, dazwischen eine „neue Mitte“ zu finden?

Nein: es geht darum, Rechtspopulismus und Neofaschismus ganz entschieden zu bekämpfen. Das aber wird nur funktionieren in einer Gesellschaft, in der es soziale und rechtliche Gleichheit für Alle gibt. Es geht um mehr als darum, das Erreichte zu verteidigen: Es geht darum, eine humanistische und soziale Gesellschaft aufzubauen und der Angst vor dem sozialen Abstieg, der Angst vor der Zukunft, der Angst vor Diskriminierung etwas entgegenzusetzen: soziale Gerechtigkeit, Hoffnung, Mut, Vielfalt und Solidarität.

Jasper Prigge ist stellvertretender Landessprecher der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen.

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"Kretschmann sucht die neue Mitte", UZ vom 14. Oktober 2016



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