Gedenken in Stukenbrock – „Gesten in Zeiten zunehmender Konfrontation“

Krieg fällt nicht vom Himmel

Von Uwe Koopmann

Vor der Gedenkveranstaltung auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock-Senne gab es am vergangenen Samstag – wie viele Jahre zuvor – einen informativen Rundgang vorbei an langen Gräberreihen und dem Obelisken. Bei ihrer detailreichen Darstellung zu Hintergründen, Auswirkungen und Folgen brachte es Elfriede Haug auf den Punkt: „Krieg fällt nicht vom Himmel“. – Krieg hat Verantwortliche, Kriege werden gemacht. Vor 76 Jahren und auch in diesen Tagen.

Hans Coppi, Sohn ermordeter Antifaschisten der Roten Kapelle, verwies allerdings auch darauf, dass es 70 Jahre nach Kriegsende auch „Gesten in Zeiten zunehmender Konfrontation“ gebe. Am 18. Mai hatte der Bundestag fraktionsübergreifend Entschädigungsbeiträge für frühere sowjetische Kriegsgefangene beschlossen. Bei der kontroversen Debatte vor 15 Jahren war dies noch abgelehnt worden.

Erstmals in der Geschichte der letzten Ruhestätte der 65 000 Sowjetsoldaten besuchte mit Bundespräsident Joachim Gauck ein deutsches Staatsoberhaupt dieses Feld der Schande. Hans Coppi: „Gauck erinnerte an eines der schändlichsten Verbrechen des Naziregimes, das bisher in der deutschen Erinnerungskultur kaum zur Kenntnis genommene Leiden und das millionenfache Sterben von Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft.“ Über Jahrzehnte galt „der Russe“ als Feind, galten Friedensfreunde wie der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ vielfach als Nestbeschmutzer.

Dem präsidialen Wertewandel, der erstmals unter Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag deutlich geworden war, ging allerdings eine jahrzehntelange unermüdliche Arbeit für Völkerverständigung und Frieden von Initiativen voran.

Das anerkannte Engagement von Gauck überdeckte nicht, dass diese Gesten auf anhaltenden Widerstand stoßen. Nach der Befreiung durch US-amerikanische Truppen am 2. April 1945 errichteten die Überlebenden den Obelisken mit der roten Fahne, als Zeichen der Sowjetarmee, an der Spitze. Am 2. Mai 1945 wurde das Denkmal eingeweiht. Wenige Jahre später wurde die Rote Fahne von deutschen Stellen entfernt und durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt und anschließend unter Denkmalschutz gestellt. Das alles gegen den Willen der – zum größten Teil atheistischen – Erbauer und ohne sie überhaupt zu fragen. Im Jahr 2005 schien es eine Wende zu geben: Der authentische Zustand sollte wieder hergestellt werden. Dieses Ansinnen wurde aber nicht umgesetzt und 2014 endgültig abgelehnt. – Widerstand gegen die Fahne der Befreier; eine andere „Geste“.

Am 2. April 1945 errichteten die Überlebenden den Obelisken mit der roten Fahne

Zu den Teilnehmern bei der Einweihung des Obelisken im Mai 1945 gehörte auch Prof. Dr. Wladimir Naumov (83), der 1943 aus der Sowjetunion als Kind im Alter von 11 Jahren ins Deutsche Reich deportiert worden war und als minderjähriger Zwangsarbeiter in der Textilfabrik Friederich-Wilhelms-Bleiche in Brackwede/Bielefeld ausgebeutet wurde. Er dankte dem Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ für die jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit, ebenso Walborg Schröder von der Deutsch-Russischen Gesellschaft in NRW für ihren großen Beitrag zu den Begegnungen zwischen den jungen Generationen in Deutschland und Russland.

Diese jungen Friedensaktivisten wurden auf dem Friedhof von der Landesschülervertretung NRW vertreten, deren Sprecher in einer sehr engagierten Rede Schlussfolgerungen aus der Geschichte zog: Soldaten nie wieder in Schulen! Mit Transparent und Fahnen war auch die SDAJ dabei. Auf ihrem Banner stand: „Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten“.

Dieser Dank bekam durch die Ausführungen von Hans Coppi ein besonderes Gesicht. Der VVN-Vorsitzende von Berlin erinnerte in seiner Rede an die bereits 1941 eingerichteten Lager für über 120 000 sowjetische Kriegsgefangene. Selektiert wurden Kommunisten, Juden und „unheilbar Kranke“. 4 000 Gefangene aus Stukenbrock kamen zur „Sonderbehandlung“ ins Konzentrationslager. In Auschwitz wurden 1 500 Sowjetsoldaten bei einem Ersteinsatz von Zyklon B ermordet. Befreit wurde Auschwitz am 27. Januar 1945 von der Roten Armee. Kanzlerin Merkel besuchte das Grab des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer – am 10. Mai, eine demonstrative Geste zwei Tage nach den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes.

Friedenswünsche aus Russland wurden mehrfach übermittelt. Der Verband der ehemaligen minderjährigen Zwangsarbeiter im Faschismus richtete einen Aufruf an die Jugend in Deutschland, in dem er seine „Position zu der aktuellen Situation in der Welt und zwischen unseren Ländern“ formulierte. Aus einem Aufruf zweier ehemaliger Sowjetsoldaten, einer aus Russland, einer aus der Ukraine, zitierte Hans Coppi: „Ihr jungen Leute mit der Kalaschnikow in ungeübter Hand, respektiert Eure Großväter, die mit ihrer Waffe einen wirklichen Feind vertrieben. Hört auf uns, die in faschistischen Lagern das wenige Brot miteinander teilten. Benehmt Euch wie Mitglieder einer Familie, in der man sich streitet im Bewusstsein gegenseitigen Respekts und sich wieder verträgt. Macht endlich Frieden miteinander!“

Auch angesichts dieser Gesten forderte Coppi in Anwesenheit von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikern historische Verantwortung. Es gelte, den inneren Frieden und „Menschen in Deutschland zu schützen, die in größter Not aus Kriegsgebieten geflohen waren. Neonazis, Wut- und Hassbürger greifen Flüchtlinge an, ihre Unterkünfte brennen. Die NPD als geistiger Brandbeschleuniger sollte nicht weiter von V-Leuten des Verfassungsschutzes alimentiert, sondern endlich verboten werden.“

Pastor Jochen Schwabedissen dankte Wolfgang MacGregor für seine feinfühlige Auswahl mehrerer Lieder, mit deren Vortrag er die Veranstaltung bereicherte. Die benachbarte Dokumentationsstelle Stalag 326 bot anschließend die Gelegenheit zu einem Rundgang. Zur Fortschreibung dieser wichtigen Einrichtung böten sich viele Möglichkeiten. Werner Höner verwies schon bei seiner Begrüßungsrede darauf, dass der Wunsch nach wie vor bestehe, den Obelisken in seinen Originalzustand zurückzuführen. Dazu bedürfe es aber eines veränderten Geistes, der in den letzten Jahren eher auf die NATO-Osterweiterung und zahlreiche Kriegseinsätze drängte. Auch Jochen Schwabedissen machte in seinem ermunternden Schlusswort deutlich, dass es weiterer Bemühungen bedürfe, um den Frieden zu gewinnen. In der Welt und im eigenen Land.

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"Krieg fällt nicht vom Himmel", UZ vom 11. September 2015



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