Vom 5. bis 11. September

Meine progressive Woche

Von Adi Reiher

Dienstag

Ein Terroranschlag wie der auf „Charlie Hebdo“ würde die deutsche Polizei angeblich überfordern. Deshalb werden jetzt neue Spezialeinheiten aufgebaut. Die sollen sich außer dem Terror noch Demonstrationen (und Fußballspielen) widmen. Oder hieß es Demonstranten und anderen Terroristen? Oder sollen sie unverzüglich dem roten Terror entgegentreten? Irgendwie so ähnlich.

Mittwoch

Wer seine Heimat hinter sich gelassen hat, wird bei der Integration in die neue Umgebung schon mal fünf gerade sein lassen; etwa, wenn er beim Lohn Abschläge hinnehmen oder bei der Wohnsituation Abstriche machen muss. Und außerdem bei der Arbeit mehr leisten „darf“ als andere.

Allen voran geht die Bundeskanzlerin. Die stammt bekanntlich auch aus einem anderen Land (wie der Bundespräsident) und muss gerade als Frau besser sein als ihre Vorgänger. Sie trinkt nicht (wie Brandt), raucht nicht (wie Erhard und Schmidt), ist ihrem Partner treu (nicht wie Schröder). Außerdem ist sie nur in Maßen eitel (anders als Kiesinger) und spricht viel verständlicher als Adenauer und Kohl. In einem aber steht sie besonders turmhoch über den meist schlecht gelaunten Ex-Kanzlern. Sie vergisst nie zu grinsen, wenn wer auch immer ein Selfie mit ihr machen will. Das schafft nicht einmal Queen Elizabeth II.

Donnerstag

Auch über der Atomruine von Fukushima tobt der schwere Taifun „Etau“. Dort lagern 850 000 Tonnen minder bis schwer verseuchtes Wasser, 300 Tonnen Grundwasser kommen jeden Tag dazu – frisch verseucht sozusagen. Da fällt es kaum ins Gewicht, dass „Etau“ hunderte Tonnen Wasser ins Meer spült. Selbst nach Angaben des Betreibers Tepco wird es 40 Jahre dauern, bis die Reaktoren abgebaut sind, von denen die Verstrahlung immer weiter ausgeht. An 75 000 verschiedenen Stellen in der näheren und weiteren Umgebung wird verstrahltes Material gelagert, auch unter freiem Himmel – gern in blauen Plastiksäcken.

Unter diesen Umständen mutet es seltsam an, dass die japanische Regierung die ersten Sperrgebiete, etwa die ehemals 7 500-Seelen-Gemeinde Nahara, freigibt und die Bevölkerung auffordert zurückzukehren. Niemals hat es unabhängige Messungen gegeben, wie gefährlich die Strahlung tatsächlich ist. So erscheint die Versicherung der Regierung, alles sei „clean“, rätselhaft, bis man liest, dass mit der Freigabe alle Entschädigungsansprüche der ehemaligen BewohnerInnen entfallen. Nachtigall, ich hör dir trapsen.

Freitag

Auch wenn nach dem neuesten ARD-Deutschlandtrend 61 Prozent der Bevölkerung  keine Angst vor den Flüchtlingen haben; 36 Prozent, im Osten 38, haben sie. Die Frage ist eh falsch gestellt. Sie sollte lauten, wer glaubt, dass die Flüchtlingsfrage im politischen Diskurs als Vorwand für eine Verschärfung der Kürzungspolitik und Ausgangspunkt für rechtspopulistisches Geschwafel wird herhalten müssen. Da sind wir dann bei der Realität und wahrscheinlich bei 99 Prozent. Das eine Prozent sind dann die, die profitieren – wirtschaftlich und politisch.

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"Meine progressive Woche", UZ vom 18. September 2015



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