Zur Kandidatur Ursula von der Leyens zur EU-Wahl

Minderschwerer Fall

Wer 1990 eine Dissertation schrieb, konnte vielleicht ahnen, musste aber nicht unbedingt damit rechnen, dass diese Doktorarbeit ein Vierteljahrhundert später recht einfach mit Computerprogrammen auf Plagiate geprüft werden könnte. Und womöglich fühlten sich Söhne und Töchter aus gutem Hause noch zusätzlich durch den Klasseninstinkt der höheren Vetternwirtschaft abgesichert.

Mit was Ursula von der Leyen auch immer rechnete, was sie ahnte oder auf was sie vielleicht hoffte – kaum jemand aus weniger gutem Hause könnte bei solch hoher Plagiatsquote, wie sie sie vorzuweisen hatte, hoffen, den Doktortitel behalten zu dürfen. Und doch war sie ein „minderschwerer Fall“, wie die zuständige Kommission ihre Nachsicht zu begründen beliebte, deren Vorsitzender übrigens ein Bekannter der Dame war. Aber seien wir ehrlich: Vetternwirtschaft trifft den Kern der Sache bei einer Frau ja auch kaum, solange die Begrifflichkeit der Basenwirtschaft nicht etabliert ist.

Zum Zeitpunkt ihrer Entlastung war Ursula von der Leyen bereits drei Jahre Bundesverteidigungsministerin und galt da schon als mindestens mittelschwerer Fall. 150 Millionen Euro, errechnete der Bundesrechnungshof 2018, gebe das Verteidigungsministerium jährlich für externe Berater aus. Denn Frau von der Leyen fand womöglich richtig, mit einem älteren „Beschaffungsproblem“ bei der Bundeswehr den Einsatz einer Menge Leute zu rechtfertigen, die sich über das viele Geld für eine minderschwere Arbeit bestimmt freuen und sich bei Gelegenheit noch als nützlich erweisen könnten. Zudem wurde eine McKinsey-Mitarbeiterin Rüstungsstaatssekretärin. Das wiederum ist auch weder Vettern- noch Basenwirtschaft, sondern politisch opportun, wenn man so einen Stall – dessen Geruch Frau von der Leyen als Ungediente weder haben noch ertragen kann – ausmisten will.

Jedenfalls war nichts von alledem verboten; es war ebensowenig justitiabel wie es auch allen Doktoranden freisteht, ihre Arbeit mit fremden Erkenntnissen anzureichern. Es sieht nur seltsam aus. Und das fanden dann auch ein paar Bundestagsabgeordnete, die herausfinden wollten, ob die Kollegin Ministerin irgendeine Minderschwere mit sich trägt.

Als man das Ganze also mit einem Untersuchungsausschuss geklärt wissen wollte, kamen Frau von der Leyen plötzlich die Daten beider Mobiltelefone abhanden, die sie für die Auftragsvergaben genutzt hatte. Das ist bestenfalls minderärgerlich, wenn man gerade zur Europäischen Union gewechselt hat – nicht als Beraterin, sondern als Chefin.

Denn mitten in die Ausschussarbeit fielen im Mai 2019 die Wahlen zum Parlament der Europäischen Union. Und da die Europäische Volkspartei, der auch Ursula von der Leyens CDU angehört, stärkste Kraft wurde, ergab es sich, dass Frau von der Leyens flehentliches „Hier!“ erhört wurde. Das ging deshalb, weil die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten keinen der gekürten Spitzenkandidaten – Manfred Weber von der EVP und Frans Timmermans für die europäische Sozialdemokratie – akzeptieren wollten. Kleingeister mögen mäkeln, dass der Wählerschaft zuvor über Monate erklärt worden war, dass die EU sich mit der Auswahl von Spitzenkandidaten doch zu demokratisieren gedenke und dass von der Leyen als niemals auf dem Wahlzettel stehende, jedoch einen minderschweren Posten suchende Ministerin a. D. in spe sicher zur allgemeinen Verdrossenheit beitragen würde.

Aber was sind schon fünf Jahre Missmut im Wahlvolk, wenn es um imperialistische Interessen und eine EU-Armee geht? Ursel kandidiert erneut – da werden Waffenbeschaffung und Beraterverträge Chefinnensache. Die EU bleibt eben ein minderschwerer Fall.

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"Minderschwerer Fall", UZ vom 15. März 2024



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