Ein Ersatz russischer Gaslieferungen durch Flüssigerdgas ist derzeit unmöglich

Mission Impossible

Rolf Jüngermann

Am 20. März ging die absurde Prognose an die interessierte Öffentlichkeit, „dass jeden Tag rund 1.000 Flüssiggastanker nach Deutschland kommen müssten, um die jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas zu ersetzen, die zurzeit durch Pipelines aus Russland fließen“. So absurd die Meldung (die anschließend schnell und klammheimlich wieder aus dem Netz entfernt wurde) auch war, so interessant bleibt dennoch die Frage, wie hoch denn der Aufwand für die Ersetzung der russischen Pipeline-Gaslieferungen durch LNG-Tankschiffe (die Abkürzung LNG steht für „liquefied natural gas“ oder auch Flüssigerdgas) wirklich sein wird.

Im Augenblick erfolgt die Versorgung der BRD mit Erdgas beinahe ausschließlich über Pipelines – zu 38,2 Prozent aus Russland, 34,8 Prozent aus Norwegen, 22,4 Prozent aus den Niederlanden und 4,6 Prozent aus sonstigen Quellen. Sowohl Norwegen als auch die Niederlande sind nach eigenen Aussagen jedoch außerstande, ihre Liefermengen zu erhöhen, um den Ausfall der russischen Lieferungen auch nur teilweise zu ersetzen. Und es gibt im Augenblick keine weiteren Pipelines, über welche Erdgas in die BRD importiert werden könnte. So bleibt als Alternative nur der Import mithilfe von Flüssiggastankern.

Geht man die sich aus dieser Lage ergebenden Zahlen, Daten, Fakten im Einzelnen durch, kommt man kurzgefasst zu folgenden Ergebnissen: Es müssten – bei einer Verdichtungsrate von 1:600 – pro Jahr etwa 600 LNG-Tanker der heute üblichen Größe nach Deutschland kommen, um die jährlich 55 Milliarden Kubikmeter russisches Pipeline-Gas zu ersetzen – das sind gut 1,6 Tanker pro Tag an 365 Tagen im Jahr. Die einzelnen Tanker müssten bei der heute üblichen Fahrtgeschwindigkeit in einer ständigen, ununterbrochenen Schleife von Schiffen mit etwa 300 bis 400 Meilen Abstand ohne Unterbrechung deutsche LNG-Hafenterminals anlaufen. Aber es gibt dabei ein Problem: Es existiert bisher noch kein einziger LNG-Hafenterminal in der BRD, es ist noch nicht einmal einer im Bau befindlich. Zwei verharren seit Längerem in einem mehr oder weniger frühen Zustand der Planung – Brunsbüttel und Wilhelmshaven.

Rechnen wir als Beispiel einmal eine dauerhafte Versorgung aus Katar durch, wo Wirtschaftsminister Robert Habeck bekanntlich vor Kurzem auf Erdgas-Einkaufstour vorgesprochen hat: Von Katar bis Hamburg sind es durch den Suezkanal ziemlich genau 6.500 Seemeilen. Dazu kommt noch einmal die gleiche Strecke für den Rückweg mit leeren Tanks. Es bräuchte also für eine komplette Versorgung 40 bis 50 LNG-Tanker, die ständig zwischen Katar und Norddeutschland hin- und herfahren.

Und es gibt noch ein weiteres Problem: Aktuell sind weltweit etwa 600 LNG-Tanker mit jeweils über 100.000 Kubikmetern Kapazität unterwegs (Stand 2021), der größte Teil davon im asiatischen Raum. 38 bestellte LNG-Tanker werden wahrscheinlich im Jahr 2022 fertiggestellt. Da die Herstellung dieser Schiffe sehr kostspielig ist, wird mit dem Bau – je nach Konjunkturlage – oft erst begonnen, wenn unterzeichnete Charterverträge für die nächsten Jahre vorliegen. Das bedeutet, dass ein hoher Anteil der heute im Einsatz befindlichen Schiffe auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus vertraglich gebunden ist. Es wäre naiv, nach Katar zu fliegen und zu meinen, viele gut gefüllte LNG-Tanker auf Dauer chartern zu können.

Neben Katar kommen theoretisch auch die USA, Iran, China, Kanada, Australien, Saudi-Arabien, Malaysia und Algerien als Ersatz-Erdgaslieferanten infrage. Die Lieferwege sind also eher länger als der von Katar. Auch die Entfernung von Hamburg nach New York beträgt mit circa 3.600 Seemeilen immerhin noch mehr als die Hälfte der Strecke Hamburg – Katar.

Schon auf den ersten Blick ist damit erkennbar, dass die technischen, ökonomischen und organisatorischen Voraussetzungen für den Ersatz der russischen Pipeline-Gaslieferungen durch LNG-Tankschiffe nicht einmal ansatzweise gegeben sind. Es ist alarmierend, dass deutsche Funktionsträger sich auf eine derartige „Mission Impossible“ einlassen. Erklärlich wird das vielleicht, wenn man berücksichtigt, dass es den treibenden Kräften in den USA im Kern gar nicht darum geht, die Versorgung in Deutschland zu sichern, sondern allein darum, endlich ihr LNG so teuer wie möglich nach Deutschland und Europa verkaufen zu können. Solch maßlose Profitlogik hat – wie wir wissen – in der Vergangenheit den USA bereits oft genug als Anlass für das Anzetteln von großen Kriegen ausgereicht.

Wo es früher um die Aneignung von Erdöl ging, geht es heute um Profite aus dem erzwungenen Kauf von US-Erdgas durch Deutschland und Europa. Es ist daher kein Zufall, dass viele der größten Russlandhasser und Kriegstreiber in der gegenwärtigen BRD eine mehr oder weniger enge Verbindung zum „American Council“ und verwandten Organisationen aufweisen. Die Ukraine spielt dabei lediglich die Rolle des Bauernopfers in dieser Auseinandersetzung, einer Auseinandersetzung, deren Ziel über die Erdgasfrage noch ein gutes Stück hinausgeht: „Regime Change“ in Moskau.

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"Mission Impossible", UZ vom 8. April 2022



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