„Air Defender“: Luftwaffenmanöver der Superlative

Muskelspiel gen Osten

Martin Kirsch

Mitte Juni 2023 wird es laut über Deutschland. Die Bundeswehr, die US-Luftstreitkräfte und 23 weitere Verbündete planen die größte Luftwaffen-Verlegeübung seit Bestehen der NATO. Zentrum des folgenden Luftwaffenmanövers werden drei Lufträume über Deutschland sein. An den „Hauptdrehkreuzen“ im niedersächsischen Wunstorf, in Jagel und Hohn in Schleswig-Holstein und in Lechfeld in Bayern haben die praktischen Vorbereitungen längst begonnen. Neben knapp 100 Kampf-, Tank- und Transportflugzeugen der Luftwaffenreserve (Air National Guard) aus den USA werden über 100 weitere Militärflugzeuge aus 23 europäischen Staaten sowie ein Flugzeug aus Japan beteiligt sein.

Die zentralen Übungslufträume befinden sich über der Nord- und Ostsee sowie über dem Norden, Nordosten und Südwesten Deutschlands. Dort sollen vom 12. bis 23. Juni täglich jeweils rund 40 bis 80 Militärmaschinen zu übungsweisen Luftkriegsoperationen aufsteigen. Insgesamt sind rund 250 sogenannte „Sorties“, also militärische Flugbewegungen, pro Tag geplant. (…) Die Anwohnerinnen und Anwohner der betroffenen Luftwaffenbasen und Übungsräume müssen darüber hinaus mit massivem Fluglärm der Kampfjets rechnen. Über Mecklenburg-Vorpommern sowie an den Luft-Boden-Schießplätzen der Bundeswehr in Bergen in Niedersachsen und Grafenwöhr in Bayern kommen durch das verstärkte Aufkommen von Tiefflügen besondere Belastungen hinzu. Daher schwört die Luftwaffe die Anwohnerinnen und Anwohner bereits darauf ein, dass sie den massiven Fluglärm der übenden Kampfjets doch bitte als Beitrag zur militärischen Sicherheit Deutschlands ertragen sollten.

Sicherheit für Deutschland bedeutet in dieser Logik ein Übungsszenario, in dem Luftkriegsoperationen nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, also für einen Krieg der NATO mit Russland in Europa, trainiert werden. Die Luftstreitkräfte der NATO gelten in solch einem Kriegsfall als „Kräfte der ersten Stunde“, weil sie innerhalb von wenigen Minuten bis einigen Stunden und damit deutlich schneller als Land- und Seestreitkräfte in die Kämpfe eingreifen könnten. Dementsprechend soll die Verlegung von rund 100 US-Militärflugzeugen über den Atlantik nach Deutschland und in angrenzende Staaten innerhalb von wenigen Stunden vollzogen werden. Deutschland wird während „Air Defender 23“ in der Luft übungsweise zu dem, was es auch in einem Kriegsfall wäre – Logistikknoten und Zwischenstation für NATO-Kampftruppen, die von Westen nach Osten ziehen. Während ein Großteil der Luftkriegsübungen über Deutschland und der Nordsee stattfinden werden und die Flugzeuge der Verbündeten in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Polen und Tschechien stationiert sein werden, sind im Rahmen des Manövers auch tägliche Hin- und Rückflüge nach Estland und Rumänien vorgesehen. Die übenden NATO-Jets fliegen also bis an die unmittelbare Ostgrenze des Bündnisgebietes. (…)

Auch wenn Russland in den offiziellen Dokumenten zu „Air Defender 2023“ nicht genannt wird und das Manöver laut der Bundesregierung auf einem „rein generischen Szenario“ basiert, machten der deutsche Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz und der Chef der US Air National Guard, Michael A. Loh, bereits an anderen Stellen deutlich, gegen wen sich das Manöver richtet. Schon 2021 legte Loh seine Motivation für die Teilnahme dar: „Ich möchte, dass (meine Leute) anfangen, mehr über unsere drohenden Gefahren – China und Russland – nachzudenken und versuchen, sie auf diese Standards zu bringen. (…) Was bedeutet es, unter den Kommandostruktur der NATO zu stehen und wie operieren wir eigentlich innerhalb der NATO?“ Luftwaffeninspekteur Gerhartz drückte es so aus: „Mit der Übung Air Defender zeigen wir, dass die Luftwaffe das erste militärische Mittel in einer Krise ist. (…) Wir können sehr schnell, in Stunden, Kräfte aus den USA nach Deutschland verlegen und so für eine glaubhafte Abschreckung sorgen.“ (…)

Damit wiederholt sich das bereits seit Jahren vollzogene Muster von gegenseitigen militärischen Muskelspielen und Drohgebärden in einem höchst unsicheren Umfeld auf immer konfrontativere Weise. Währenddessen kommt es bereits im Regelbetrieb immer wieder zu gefährlichen Situationen in den Lufträumen entlang der NATO-Grenzen, wenn sich dort russische und NATO-Kampfjets gefährlich nahe kommen. Allein im vergangenen Jahr kam es laut NATO zu 570 solchen Vorfällen und damit zu doppelt so vielen wie im Vorjahr. Jeder dieser Vorfälle birgt die Gefahr in sich, bei einem tatsächlichen Zusammenstoß zu einer ungewollten Eskalation zu führen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI). Wir haben den Text redaktionell gekürzt. Der vollständige Beitrag und eine Sonderseite mit weiteren Informationen zum Manöver finden sich auf der IMI-Website.


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"Muskelspiel gen Osten", UZ vom 9. Juni 2023



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