Das „Bielefelder Abkommen“ zur Beschwichtigung der kämpfenden Ruhrarbeiter

Nicht gehaltene Versprechen und ein Mordfeldzug

Am 23. März 1920 traf der sozialdemokratische Reichs- und preußische Staatskommissar Carl Severing im Auftrag der Regierung mit Vertretern der Gewerkschaften, der SPD, USPD und KPD, deren zwei Vertreter kein Mandat hatten, der DDP, des Zentrums zusammen. An der Besprechung nahmen auch die zuständigen Regierungspräsidenten, der Reichspostminister Johannes Gies­berts und der preußische Landwirtschaftsminister Otto Braun teil. Severing wiederholte auf der Besprechung Versprechungen der Regierung zur Beschwichtigung der kämpfenden Ruhrarbeiter. Resultat der Beratung waren das „Bielefelder Abkommen“, das wesentlich auch auf Forderungen der Gewerkschaften vom 18. und 20. März 1920 fußte, und der Abschluss eines sofortigen Waffenstillstandes.

Zur Beschwichtigung der Arbeiterinnen und Arbeiter enthielt das Abkommen Versprechungen wie mehr Mitspracherechte der Arbeiterorganisationen bei der „Neuregelung der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze“ unter „Wahrung der Rechte der Volksvertretung“, eine „Verwaltungsreform auf demokratischer Grundlage unter Mitbestimmung auch der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten“, neue Sozialgesetze, „die den Arbeitern, Angestellten und Beamten volle soziale, wirtschaftliche Gleichberechtigung gewährleisten“, „sofortige Inangriffnahme“ der Sozialisierung „der dazu reifen“ Wirtschaftszweige und anderes mehr. In ihm wurde zudem festgelegt, dass alle am Kapp-Putsch oder am Sturz der verfassungsmäßigen Regierungen Schuldigen sowie die Beamten, die sich ungesetzlichen Regierungen zur Verfügung gestellt haben, entwaffnet und bestraft werden. Festgelegt wurde die Auflösung „aller der Verfassung nicht treu gebliebenen konterrevolutionären militärischen Formationen und ihre Ersetzung durch Formationen aus den Kreisen der zuverlässigen republikanischen Bevölkerung, insbesondere der organisierten Arbeiter, Angestellten und Beamten, ohne Zurücksetzung irgendeines Standes“. Aufgelöst werden sollten die Korps Lützow, Lichtschlag und Schulz. Von den Arbeiterinnen und Arbeitern wurde der Abbruch des Generalstreiks verlangt und gefordert, die Waffen an die Behörden abzuliefern. Aus den Kreisen der republikanischen Bevölkerung sollten Ortswehren gebildet werden. Bei Einhaltung der Vereinbarungen durch die Arbeiter sollte keine Reichswehr ins Ruhrgebiet einmarschieren.

Viele glaubten den Versprechen, lieferten nach Abschluss des Bielefelder Abkommens die Waffen ab und beendeten den Streik. Andere weigerten sich, den Kampf einzustellen. Forderungen nach weiteren Verhandlungen wie denen der KPD entsprach die Reichsregierung nicht. Noch ehe die im Bielefelder Abkommen gegebenen Versprechungen auch nur ansatzweise eingelöst waren – die Reichsregierung gab zudem keine Zusagen, das Abkommen einzuhalten –, wurden weitere Reichswehrtruppen um das Ruhrgebiet zusammengezogen. Der von der Reichsregierung mit der Niederschlagung der Arbeiterproteste im Ruhrgebiet beauftragte General Oskar von Watter wies seine Truppen bereits am 22. März 1920 in einem Geheimbefehl an: „Verhandelt wird nicht. Solange eine militärische Operation im Gange ist, darf sie auch nicht durch den meist zur Nachgiebigkeit neigenden Einspruch regierungstreuer Zivilisten beeinträchtigt werden.“ In den ersten Apriltagen marschierten Reichswehrtruppen – gemeinsam mit Freikorps wie dem „Freikorps Epp“ sowie Sicherheitspolizei – ins Ruhrgebiet ein. Sie begannen einen Terrorfeldzug gegen die Arbeiter und ihre Angehörigen. Hunderte Arbeiter wurden im Ruhrgebiet ohne Gerichtsverfahren erschossen, viele zu Tode gefoltert. Mehr als tausend Menschen wurden so ermordet.

Während die Kapp-Putschisten in der Folgezeit bis auf wenige Ausnahmen ungeschoren blieben, bestrafte die Justiz der Weimarer Republik die kämpfenden Arbeiter, Sondergerichte verhängten gegen viele Männer, Frauen und Jugendliche hohe Gefängnisstrafen.

Watter wurde im Juli 1920 aus der Reichswehr entlassen. 1934 ließ er sich und den im Kampf gegen die Arbeiter im Ruhrgebiet 1919/20 getöteten Soldaten und Freikorpskämpfern mit dem Ruhrkämpferehrenmal in Essen, seit Mitte der 1980er Jahre ein „Mahnmal“ (die DKP hatte damals den Abriss gefordert), ein Denkmal setzen, mit dem der Mordfeldzug von Reichswehr und Freikorps zum „Überlebenskampf gegen den Bolschewismus“ und „Vorläufer der nationalen Revolution“ erklärt wurde. Der Befehlshaber des „Freikorps Epp“, Franz Ritter von Epp, wurde 1928 Reichstagsabgeordneter der NSDAP und nach 1933 „Reichsstatthalter“ in Bayern.

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Nicht gehaltene Versprechen und ein Mordfeldzug", UZ vom 27. März 2020



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