Zahl der Streiktage ist 2016 zurückgegangen

Notwehr

Von Anne Rieger

„Deutlich weniger Arbeitsausfälle durch Streiks“, jubelte vergangene Woche das Handelsblatt. Das „Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung“ (WSI) hatte berichtet, dass 2016 in Deutschland „auf Grund von Arbeitskämpfen 462 000 Arbeitstage ausgefallen“ seien. Das sei ein massiver Rückgang gegenüber den fast zwei Millionen Ausfalltagen des Vorjahres, so das WSI. Es betonte aber, dass „mit knapp 1,1 Millionen Streikteilnehmerinnen und -teilnehmern … in etwa das Niveau des Vorjahres erreicht“ wurde. Aus der Meldung des Handelsblatts kann man dazu ein leichtes Bedauern herauslesen: „Die Zahl der Streikenden blieb allerdings fast unverändert.“

Grund für den Rückgang der Streiktage sei, so das WSI, dass es 2016 keine großen, über Wochen andauernden Arbeitsniederlegungen gegeben habe. 2015 dagegen entfielen allein 1,5 Millionen Streiktage auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie auf den Streik bei der Post. Deswegen sei das Arbeitskampfvolumen 2016 wieder auf den Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2014 zurückgegangen, als im Mittel 469000 Arbeitstage ausfielen.

Betrachtet man die Laufzeit der Tarifverträge, stellt sich ein weiterer Grund dar: Die vom WSI für 2015 genauer dokumentierten Abschlüssen hatten alle Laufzeiten über ein Jahr hinaus. Wenige hatten „nur“ eine Laufzeit von 15 Monaten, die meisten aber liefen um die 24 Monate. Ausreißer nach oben waren das Private Verkehrsgewerbe Brandenburg mit 29, die Post mit 32 Monaten, die Sozial- und Erziehungsdienste im Öffentlichen Dienst mit fünf Jahren. Folglich wurden in diesen Bereichen 2016 kaum Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe geführt. Offensichtlich werden mehrjährige Laufzeiten immer mehr zur Regel. Und das ist es, was das Handelsblatt jubeln lässt.

Die von der Beteiligung her umfangreichsten Streiks waren 2016 die Warnstreikwellen des Öffentlichen Dienstes mit ca. 200 000 Beschäftigten sowie die breiten Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie mit ca. 800 000 aus mehreren tausend Betrieben. Wie in den Vorjahren waren mehr als drei Viertel der rund 200 Arbeitskämpfe Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarifverträge. „Der Abschluss eines Tarifvertrages ist für viele Unternehmen keineswegs mehr selbstverständlich“, so das WSI. Besonders lange dauerte 2016 die Auseinandersetzung um die Übernahme des Tarifergebnisses des öffentlichen Dienst für die Beschäftigten der AMEOS-Kliniken in Hildesheim und Osnabrück an. Die Beschäftigten waren gezwungen 11 Wochen zu streiken, um zu einem für sie akzeptablen Ergebnis zu kommen.

„Das traurigste Bild gibt hierbei Deutschlands größter Versandhändler Amazon ab. Nach wie vor verweigert der Konzern seinen Beschäftigten den Schutz eines Tarifvertrages.“ Seit Frühjahr 2013 zieht sich diese wegen ihrer Signalwirkung bedeutende Auseinandersetzung hin, die auch 2016 wieder zu zahlreichen Arbeitsniederlegungen führte. Auch wenn bisher kein Tarifvertrag erreicht wurde, hätten die Arbeitsniederlegungen, wie die Streikenden immer wieder betonen, bereits jetzt zu spürbaren Verbesserungen der Arbeitsbedingungen geführt, so das WSI.

Greifbarer als in der nüchternen Aufzählung der Streiktage durch das WSI zeigt sich am Beispiel von Amazon, dem Marktführer im Internethandel, um was es geht, wenn die Arbeitgeber die Beschäftigten zwingen, sich ihre Brosamen vom Produktivitätsfortschritt durch Arbeitsniederlegung zu holen: „Der Machtkampf der Konzernherren läuft auf vollen Touren. Ihr wisst, worum es geht … Es geht ihnen um die Macht. Wie sonst würden sie einen Produktionsausfall auf sich nehmen, der sie weit mehr kosten wird als die von uns geforderte Lohnerhöhung? Sie wollen zeigen, dass sie Herr im Haus sind“, schrieb Willi Bleicher, IG-Metall-Bezirksleiter Stuttgart, 1963 in den „Streiknachrichten“.

Was ist da heute anders, wenn ein Konzern, dem die Beschäftigten den Gewinn 2016 auf 2,4 Mrd. Dollar vervierfacht haben, den Tarifvertrag verweigert? Gewerkschaftlich organisierter Widerstand ist ein Muss im Kapitalismus, auch wenn die Herrschenden über Gerichte das Streikrecht schleifen wollen. Streik war, ist und bleibt Notwehr.

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"Notwehr", UZ vom 24. März 2017



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